Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen
Bernhard Echte
Dies ist die Lehre des Lebens, die erste und letzte und tiefste
Dass es uns löst vom Bann, den die Begriffe geknüpft.
Hugo von Hofmannsthal
Die Psychiatrie von sich selbst erlösen:
fünfhundert oder tausend genaue Berichte,
und dazu kein Wort der Einteilung oder Erklärung.
Elias Canetti
Wer sich mit dem Thema “Die Dichter und die Psychiatrie” befasst, kommt zunächst nicht umhin, einen Blick auf den “Fall Hölderlin” zu werfen, der in doppelter Hinsicht eine Art Paradigma darzustellen scheint: Zum einen für die Figur eines rätselhaft im Verstummen verlorenen Dichters und zum anderen dafür, wie über ein solches Schicksal diskutiert zu werden pflegt. Das Wort vom “Hölderlinschicksal” ist zu einem Inbegriff geworden, das auf mehrere andere Fälle angewandt wurde – Jakob van Hoddis zum Beispiel, der ebenfalls nach einer kurzen Periode höchster dichterischer Intensität verstummte und noch 28 fahre in Heim- und Klinikpflege lebte, ohne einem “normalen” menschlichen Austausch mehr zugänglich zu sein. Auch Robert Walser wurde und wird immer wieder unter diesem Muster gesehen, wobei offen bleibt, wie man sich jene Zeit seines Verstummtseins nun tatsächlich vorstellt – als eine Periode “geistiger Umnachtung”, wie man es früher gerne romantisierend nannte, als “schizophrener Endzustand”, wie es in der Sprache der Psychiatrie lange hiess (und zum Teil noch heisst) oder als Ausdruck eines radikalen und vollständigen Rückzugs in sich selbst (sei er nun freiwillig oder auf fatale Weise erzwungen).
Und schon im Falle Hölderlins ist charakteristisch, dass sich die ärztliche und die literarische Wahrnehmung von Beginn an unterschied. Stand für die Psychiatrie seit der Zeit ihrer wissenschaftlichen Etablierung fest, dass Hölderlin an einer Geisteskrankheit litt, so konnten Autoren wie Wilhelm Waiblinger (der Hölderlin häufig besuchte) sich nicht des Gefühls erwehren dass Hölderlins unverständliches Verhalten Ausdruck einer Tragik sei und womöglich doch einen versteckten Sinn enthalte. Allerdings schien es sich bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein zu verbieten, die ärztliche Autorität in Frage zu stellen, und erst Pierre Bertaux’s 650 Seiten starkes Hölderlin-Buch, das 1978 erschienn, wagte den offenen und grundsätzlichen Widerspruch: Nein, Hölderlin sei nicht krank, nicht schizophren gewesen. Die Merkwürdigkeit seines Verhaltens habe vielmehr Gründe, die – hinreichende biographische Kenntnis vorausgesetzt – einem einfühlsamen Verstehen zugänglich und nachvollziehbar seien.
Es ist hier nicht der Ort, die Plausibilität der vielen lebensgeschichtlichen und psychologischen Bezüge zu erörtern, die Bertaux zur Erhellung von Hölderlins Verhalten beigebracht hat. Mir geht es vielmehr um das Muster der Diskussion, das sich in Reaktion auf sein Buch entwickelt hat. Da gab es natürlich zum einen Stimmen, die Bertaux pauschal die Fachkompetenz absprachen, als Literaturwissenschaftler dergleichen Phänomene überhaupt beurteilen zu können. Auch wenn die Arroganz dieser Reaktion für gewisse Kreise der Psychiatrie leider nicht ganz uncharakteristisch war, so können wir sie dennoch hier beiseite lassen, denn es erschien auch zumindest eine ausführliche Replik aus psychiatrischer Sicht, die auf Bertaux’s Darstellung detailliert einging: gemeint ist das Buch von Uwe Henrik Peters “Hölderlin – Wider die These vom edlen Simulanten” (1982). Peters wies Bertaux eine Reihe Fehler in der Begrifflichkeit und der Kenntnis psychiatrischer Autoren wie z.B. Lange-Eichbaum (den Autor des bekannten Werks “Genie, Irrsinn und Ruhm”) nach. Wichtiger als diese (tatsächlich peinlichen) Fehler auf der terminologischen und psychiatriegeschichtlichen Ebene ist jedoch eine andere Kritik. Zusammenfassend gesagt, hält Peters Bertaux entgegen, dass er Anlass und Ursache einer Erkrankung nicht voneinander trenne. Bei jeder psychischen Erkrankung, so Peters, liessen sich auslösende Faktoren rekonstruieren. So unabdingbar ein solche Momente auch seien, so wenig erschöpfe sich das Problem allerdings darin. Peters schreibt ‘Es ist ein Verdienst von Bertaux, auf die enge Verflechtung des Beginns von Hölderlins Krankheit und seines Verhältnisses zu dem kleinen Kreis der ihm am nächsten stehenden Menschen hingewiesen zu haben. Ich möchte aber erneut hervorheben”, so Peters weiter, “dass dies in der Psychopathologie immer so ist. Psychische Krankheiten brechen nicht ohne tiefgreifende Störungen der Beziehungen zu den nächsten Menschen aus. Aus dem Vorhandensein und der Wichtigkeit solcher Beziehungen kann man daher keineswegs ableiten, dass es sich deshalb nicht um eine psychischen Krankheit handeln könne.” (S. 84) Mit anderen Worten: Es mache den Charakter einer psychischen Krankheit aus, dass sie nicht rein reaktiver Natur sei. Der Anlass einer Erkrankung mag sehr wohl verständlich sein – die Krankheit als solche – ihr Verlauf und ihre symptomatischen Erscheinungsformen – sei jedoch durch andere Faktoren bzw. Ursachen bestimmt und vollziehe sich nach überwiegend eigengesetzlichen Mustern. Dem individuellen an ihr komme letztlich nur akzidentielle Bedeutung zu.
Die Diagnose, die Peters daraufhin an Hölderlin stellt, lautet auf “Schizophasie”, d.h. Sprachverwirrtheit, eine spezielle, eher selten auftretende Sonderform der Schizophrenie. Peters gelangt zu dieser Diagnose, indem er Zeugnisse von Menschen, die Hölderlin besuchten, neben Kraepelins Charakterisierung der “Schizophasie” hält und phänomenologische Ähnlichkeiten zwischen den entsprechenden Beschreibungen konstatiert.
Tatsächlich ist eine solche Ähnlichkeit nicht zu leugnen. Dennoch kommt die Auseinandersetzung von Peters mit Bertaux ab diesem Punkt zu einem merkwürdigen Stillstand. Denn aus der Diagnose folgt nichts, was das Verständnis von Hölderlins Zustand in irgendeiner Weise spezifisch befruchtet. Die verschiedenen Ausführungen über Hölderlins Wutanfälle, seine Beziehung zur Mutter etc., die in Peters’ Buch noch folgen, gewinnen ihre Deutungen aus psychoanalytischen, systemischen und linguistischen Theorien, zuweilen auch aus historisch-biographischen Beobachtungen und dürften sogar weitgehend im sinne Bertaux’s sein – aus der Diagnose „Schizophasie” und dem damit eingeführten Krankheitsbegriff folgt in interpretativem oder gar hypothetisch-therapeutischem Sinne jedoch nichts.
Vielleicht sind sie mit mir einig dass dies merkwürdig ist. Da schreibt der eine Gelehrte ein Buch von 650 Seiten, um zu belegen, dass Hölderlin nicht krank gewesen sei – ein anderer Gelehrter antwortet ihm auf 260 Seiten und insistiert auf dem Gegenteil, ohne dass sich beide in ihrem Verständnis für die konkreten biographischen Entwicklungszusammenhänge in Hölderlins Leben sonderlich unterschieden. Was sie trennt ist eigentlich nur der Krankheitsbegriff, den der eine perhorresziert, obwohl der andere aus ihm gar keine Erkenntnisse zu gewinnen vermag. Wird hier ein Streit um des Kaisers Bart geführt?
Leider nein. Denn Diagnose und Krankheitsbegriff sind in der Psychiatrie – entgegen der ihnen zugeschriebenen Aufgabe und Funktion – nicht primär dazu da, Einsichten in die spezifische seelische Not von Menschen zu gewinnen, sondern er dient zur Legitimierung bestimmter praktischer Eingriffe in das Leben schwieriger oder hilfsbedürftiger Menschen. Im Krankheitsbegriff sind all die sozialen, therapeutischen, versicherungstechnischen und juristischen Massnahmen verankert, zu denen die Institution Psychiatrie befugt ist. Und bei der Verteidigung dieses Paradigmas geht es nicht zuletzt auch darum, wer in Gesellschaft und Wissenschaft die Meinungsführerschaft und das Zuständigkeitsmonopol für diesen Problemkreis beanspruchen darf.
Damit soll im übrigen keineswegs gesagt sein, dass sich die Psychiatrie jene Einfluss- und Entscheidungsmacht lediglich anmasst. Es ist im Gegenteil so, dass die Gesellschaft von sich aus (um verallgemeinernd zu sprechen) der Psychiatrie zahllose Problemfälle delegiert, mit denen sie selber nicht zu Rande kommt. Wenn zwischenmenschliche Beziehungen oder einzelne Lebensläufe so hoffnungslos verfahren, verknäuelt oder auf eine bizarr dramatisierte Spitze getrieben sind, dass die Betroffenen keine Lösung mehr finden, dann wendet man sich als ultima ratio an die Psychiatrie – in der Hoffnung, dass sie mit fachlicher Autorität eingreift und die Sache wie ein deus ex machina wieder ins Lot bringt. Um diese Aufgabe ist die Psychiatrie nicht zu beneiden, im Gegenteil. Allerdings rechtfertigt die Anerkennung dieser reichlich anspruchsvollen und dornenvollen Lage noch lange nicht das Festhalten an einem fragwürdigen Kardinalbegriff – so sehr er auch von pragmatischen Notwendigkeiten her unerlässlich erscheinen mag.
Worin sieht nun Bertaux die Problematik des Krankheitsbegriffs? Im wesentlichen in zwei Punkten: in der Stigmatisierung und dem Reduktionismus. Auch wenn gerade heute viele Psychiater betonen, die Diagnose einer “Schizophrenie” impliziere keine Abwertung der betroffenen Person, so ist dies in der gesellschaftlichen Realität dennoch der Fall. Die Feststellung, jemand sei seiner Sinne und seiner Vernunft ganz oder teilweise nicht mächtig, stellt diese Person unter einen Generalvorbehalt, der latent oder offen in alle Beziehungen eindringt. Diese elementare Irritation wird in einer rationalistisch geprägten Welt mit Sicherheit auch nicht durch den blossen guten Willen einiger Psychiater zu ändern sein.
Dies um so weniger, solange mit dem Begriff der psychischen oder Geistes-Krankheit die Vorstellung eines selbsttätigen, von der Eigenart und Geschichte des Betroffenen unabhängigen Geschehens verbunden bleibt. Damit wird nicht nur das individuelle Schicksal auf ein allgemeines Muster reduziert, sondern auch die Frage ausgeblendet ob der Betroffene nicht vielleicht auch “krank”-machenden Zusammenhängen unterlegen ist, ob ihm – mit anderen Worten – nicht tiefes Unrecht geschah. Es mag unter sozialtechnischen Gesichtspunkten einfacher sein, die Dimension von persönlicher Verantwortung, Schuld und Macht auszublenden, der Wahrheit aber tut man damit keinen Dienst.
“Was kann man sein, wenn man nicht gesund ist?’ fragt Robert Walser in einem Brief an Christian Morgenstern vom Oktober 1906, um im Postskriptum insistierend hinzuzufügen: “Das ist übrigens noch eine Frage.” (Briefe 46 f.) Offensichtlich ist es für Walser zumindest eine unzulässige Vereinfachung, einen Nicht-Gesunden kurzerhand krank zu nennen – zumindest wenn es sich um seelisch-geistige Zusammenhänge handelt. Es scheint mir wichtig bei diesem Punkt einen Moment zu verweilen. Die Dichotomie gesund/krank tut so, als ob es ein Drittes nicht gebe. Hier das Gesunde, das sich als Ergebnis einer ‘natürlichen’ Entwicklung ergebe – dort das Kranke, das eine Abirrung, eine Störung, ein funktionelles Defizit in bestimmten – eben “kranken” – Ausnahmefällen darstellt. Tertium non datur.
Dass hier ein verdeckter Reduktionismus vorliegt, macht Walser in der zitierten Passage ebenso beiläufig wie unmissverständlich deutlich. Ja, man ist versucht, in seiner Bemerkung eine Überlegung vorweggenommen zu sehen mit der fünfzig Jahre nach ihm Michel Foucault sein Buch ,,Psychologie und Geisteskrankheit” schloss: Erst – so Foucault – als ,,die Vernunft für den Menschen aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zu werden”, erst da sei aus dem Wahnsinn eine Krankheit geworden. Mit anderen Worten: Erst als aus der gefallenen Kreatur Mensch ein vernunft-gesteuerter biologischer Apparat wurde, erst als der Mensch die Maschinenanalogie nicht nur auf seinen Körper, sondern auch auf sein geistig-seelisches Leben anwandte – erst da wurde aus dem Wahnsinn eine Krankheit.
Ist denn aber tatsächlich – einmal zugespitzt gefragt – die Vernunft, die realitätsgerechte Einsicht in die Bedingungen und Möglichkeiten des je eigenen Lebens des Menschen Natur?
Ich glaube, man darf an diesem gewiss ehrenwerten aufklärerischen Axiom Zweifel anmelden. Wer beispielsweise nur einmal ein paar Stunden ein drei- bis vierjähriges Kind in voll entwickelter Trotzphase beaufsichtigt hat, wird zu seinem eigenen Leidwesen hinreichend erfahren haben, dass der ‘natürliche’, ‘gesunde’ weg zur Vernunft ein durchaus steiniger und von mannigfaltigen Widerständen verstellter ist. Wahnsinn und Verständigkeit sind beim Kind noch nicht geschieden, und eigentlich jeder einigermassen reflektierte Pädagoge weiss, dass das Vernünftigwerden ein utopisches Ziel ist, an dem sich unsere Entwicklung keineswegs immer nur freiwillig orientiert.
Und noch ein anderes Beispiel, ehe ich diesen Exkurs beende. Vielleicht haben auch Sie einmal eine Situation erlebt, in der Ihnen tiefgreifendes, empfindliches Unrecht geschah, das Ihr ganzes Rechtsempfinden so sehr verletzte, dass sie dachten, die Welt gehe auf dem Kopf, wenn dergleichen nicht korrigiert und wieder gut gemacht werde. Vielleicht ist Ihnen dann auch widerfahren, dass sich ein innerer Monolog in Ihnen verselbständigt hat, dass Sie nachts, wenn Sie nicht schlafen konnten, dass Sie morgens unter der Dusche unablässig innere Verteidigungs- und Anklagereden halten mussten, dass Ihr Inneres eine quälende und nicht zu stoppende Eloquenz entwickelte – gänzlich haltlos übrigens und in keinem realen Zusammenhang verwendbar.
Bitte verstehen Sie mich recht: Ich will in dieser Sache keinen populärwissenschaftlichen Schindluder treiben – etwa in der Art, wir seien ja alle mehr oder weniger verrückt. So einfach liegen die Dinge nicht. Was ich aber in aller Entschiedenheit betonen möchte, ist dies: Dass der Wahnsinn, die Verrücktheit nichts Widernatürliches ist, sondern in spezifischer Weise zu unserem Leben gehört: als entwicklungspsychologische Gegebenheit ebenso wie als untergründiges Residuum, das dann wieder zu dominieren beginnt, wenn man von einer gleichermassen empfindlichen wie übermächtigen Verletzung und Erniedrigung: einer “Kränkung” getroffen wird, die man – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr abwehren und vom eigenen Inneren fernhalten kann.
Und damit sind wir unmittelbar wieder bei Robert Walser, genauer: bei seinem Bruder Ernst und dem Roman “Geschwister Tanner”. Simon, der Held des Buches, wird in einem Wirtshaus zufällig Zeuge einer Unterhaltung von zwei Gästen, die sich die Geschichte eines verrückt gewordenen jungen Mannes erzählen. Simon erkennt, dass von seinem Bruder die Rede ist, und wir wissen heute, dass Robert Walser hier die reale Geschichte seines eigenen Bruders eingeflochten hat. Simon hört der Erzählung seiner Tischgenossen zunächst ruhig zu, greift dann aber heftig in die Unterhaltung ein, als die Berichtenden mutmassen, die “Krankheit” des jungen Mannes müsse wohl in der Familie liegen. Simon bestreitet dies vehement und wehrt sich mit aller Beredtsamkeit gegen die krude Vereinfachung der einschlägige Vererbungstheorien: “Nein, in der Familie kann es nicht liegen”, ruft er aus. “Ich bestreite das, solange ich lebe.” Statt dessen bietet er eine seltsam simple ‘Erklärung’ an: ‘Es ist einfach das Unglück”, sagt er.
Das Unglück – wir sind heute gewohnt, ein so pauschales Wort nicht mehr als ‘Erklärung’ gelten zu lassen, und tatsächlich ist es beim näheren Hinsehen auch keine Erklärung. Denn ein Unglück ist der geläufigen Wortbedeutung nach immer der unvorhersehbare Einzelfall, das Ausnahmeereignis jenseits von Erwartbarkeit und Kausalität. Und das Unglück, wie Simon es pauschal erwähnt, ist die Dimension des schicksalhaften Misslingens und des Verhängnisses, das eine Kette von Geschehnissen, eine Entwicklung oder ein ganzes Menschenleben ergreift.
Dabei sind es am Anfang nur unscheinbare Kleinigkeiten, welche die Dinge ins Negative kippen lassen. ”Kann es nicht”, fragt Simon Tanner, ,,in einem stäubchen in der Seele liegen? So und immer so: und deshalb so? Schauen Sie bitte, was ich jetzt für eine Handbewegung mache: So, so! Darin liegt es. Der Mensch fühlt so, und dann handelt er so, und alsdann stösst er an mancherlei Mauern und Unebenheiten so an.” (SW 9, 238) Eines gibt das andere und beginnt sich unselig zu verketten. Treffen kann das Unglück jeden, die empfindsamen und stolzen Seelen zumal. Und von Walsers Bruder Ernst wissen wir, dass er eine ebenso sensible wie hochfliegende, ebenso kühne wie kränkbare Natur war. Von Kindesbeinen gewohnt, dass ihm alles zufiel, dass er seine Umwelt mit künstlerischer Begabung und der natürlichen Grazie seines Auftretens bezauberte, dass er im Niedergang der Familie der leuchtende Hoffnungsstern der ehrgeizigen Mutter und das glühend bewunderte Vorbild der jüngeren Bruder Karl und Robert war – dieser Ernst Walser beginnt an der Schwelle des Erwachsenenlebens zu stolpern, seine kühne genialische Art “stösst an Mauern an”. Er reagiert mit der ihm bisher zugebilligten Überlegenheitsgeste, glaubt, mediokre Widerstände einfach wegwischen zu können. Doch beim Militär oder im Lehrerberuf geht dergleichen nicht. Man statuiert Exempel an ihm, zeigt ihm den Meister, versucht bewusst, ihn zu erniedrigen, damit er die Grenzen kennenlerne. Man kündigt ihm Stellen, beim Militär steckt man ihn in Arrest. ‘Natürlich’ lässt er sich das nicht gefallen. Ein circolus vitiosus etabliert sich, nicht nur im praktischen Alltag, sondern auch im Psychischen. Die Frage der Selbstachtung stellt sich bald überall, sogar an den unbedeutendsten Kleinigkeiten. Eine habituelle Widerständigkeit und Gereiztheit setzt sich fest. Der Verletzte hält seine Kränkung der Umwelt in immer schwerer durchschaubaren Formen vor, bis nach und nach der gemeinsame Horizont des Verstehens verlassen ist. An seinem Bruder Ernst scheint Walser sie genau beobachtet zu haben, jene fatale Spirale der Missachtung und Erniedrigung des Gefühls, permanent Unrecht zu erleiden, jenes Gift der sich immer tiefer einfressenden Verletzung jenen heimtückischen Mechanismus von Ausgrenzung, Isolation und Selbstisolation, der zuletzt in ein angeblich nicht mehr nachvollziehbares Anderssein mündet: in die Verrücktheít. Erklärt werden kann ein solches fortwucherndes Geflecht von Reaktion und Gegenreaktion nach Walser tatsächlich nicht – erzählt werden dagegen schon.
In die Logik des Wissenschaftstheoretikers übersetzt hiesse dies: Der Faktoren, die miteinander interagieren und Folgewirkungen von Folgewirkungen produzieren, sind in jedem Leben zu viele, als dass sie sich methodisch isolieren, reduzieren und in einen gesetzmässigen Kausalzusammenhang bringen liessen. Und selbst wenn es gelänge, probabilistische Muster zu ermitteln, sie umfassten den Einzelfall ja gerade nicht, für den eine statistische Mittelung nichts Spezifisches oder Verlässliches auszusagen vermag. Um eben dies – den je besonderen Einzelfall – aber geht es. Ein Schicksal, eine Lebensgeschichte kann mithin nicht erklärt, sondern nur erzählt und so vielleicht ein Stück weit verstanden werden.
Ein solches Erzählvorhaben unternimmt Walser auch in der Erzählung “Germer“, die sein zweiter Schlüsseltext zur Frage der Verrücktheit ist. Aufgerollt wird die Geschichte des Bankangestellten Germer, seines Zeichens “langjähriger Inhabers eines schwierigen Wechselportefeuillepostens. Germer vermag den Anforderungen der Arbeit nicht mehr zu entsprechen, er ,,beherrscht seine Empfindungen nicht”, er pflegt unmotiviert zu gestikulieren, zu lachen, oder er “wischt mit der grässlich flachen Hand etwas aus der Luft weg”. Ganz augenscheinlich mit sich und seiner Lage im Hader, wird er von seinen Kollegen zum allgemeinen Gaudium schikaniert: Man veranstaltet sogenannte “Extravorstellungen”, bei denen sich fast das gesamte Büropersonal um Germer versammelt, um ihn lustvoll vorzuführen und zu piesacken. Der Chef der Abteilung ignoriert das Geschehen und mahnt Germer statt dessen an die Effizienzgebote des Jobs: “Sie müssen exakter arbeiten”, lautet sein wieder und wieder mit sachlicher Stimme vorgetragener Tadel. Eben diese unerbittliche ‘Objektivität’, die nichts anderes ist als die kaltschnäuzige Verleugnung der Situation, macht das Unglück Germers erst vollends komplett. Doch es ist eben kein Unglück, auch nicht die Folge von ,,Mobbing”, wie man heute sagen würde – sondern “Krankheit’. Als dieses Wort zum ersten Mal fällt, fügt Walser sogleich sarkastisch hinzu, es gebe ja “Krankheiten, die zu Lebensstellungen noch ganz gut passen”. Bei Germer aber ist es leider umgekehrt. Er befindet sich in einer Negativspirale, in der eine Fatalität die nächste produziert, ohne dass es ein Ausbrechen gibt.
Wie kommt diese Unentrinnbarkeit zustande? Wiederum versucht Walser nicht, zu erklären. Doch seine Erzählung gibt Hinweise. Germer wird zum einen das Opfer einer Diskrepanz, die sich beispielsweise daran zeigt, dass er sich immer falsch wehrt. Germers gesamtes Auftreten, seine Gesten, seine Mimik sind unzureichend oder falsch verkörpert (daher auch die groteske Theater-Szenerie des Textes). Sein Verhalten, seine Bewegungen und Reaktionen sind hohl, machtlos, lächerlich und wenden sich gegen ihn selbst. Dazu bedarf es allerdings auch einer Gegenpartei: der Gruppe von Kollegen, die “gesund, rotwangig und robust” sind und die sich ihre ‘gesunde’ Kraft dadurch beweisen, dass sie ein Objekt zum “Unterhalten, Spielen und Peinigen” brauchen. Sie verfügen – zumal als Gruppe – über etwas, das Germer gerade abgeht: über eine körperliche Präsenz, die fähig ist, Respekt und Angst zu erregen, d.h. Macht glaubwürdig zu demonstrieren. Germer vermag dies nicht, so sehr sich seine kategorischen Gesten auch darum bemühen. Zwischen ihnen und seiner Statur (bzw. seiner ,,grässlich flachen Hand”) klafft eine wachsende Diskrepanz, die um so lächerlicher wird, je mehr sie Germer aus Selbstschutzgründen vor sich selbst verleugnen muss. Auch hier haben wir sie also wieder: jene sich fortlaufend negativ verstärkende Spirale der Selbstverkennung, die schon bei der Schilderung von Simon Tanners Bruder so deutlich hervortrat.
Dennoch macht Walser – mit Bedacht, wie ich meine – keine Theorie daraus. Das “Germer”- Prosastück gipfelt zuletzt vielmehr in der Frage: “Wer kann einer Seele sagen, woran sie erkrankt?” Die Art, wie Walser antwortet, will genauer betrachtet sein. Er antwortet im Grunde nämlich nicht, so als sei die Frage falsch gestellt. Er beantwortet sie nicht, weil die Erzählung selber: ihre vielperspektivische Durchdringung der Schicksalszusammenhänge die einzige Form von Antwort darstellt, die er zu geben vermag – womit er, wie oben bereits angedeutet, neuerlich zu verstehen gibt, dass Erklärungen, die das Geschehen auf wenige bedingenden Faktoren reduzieren, nur den Schein von Wissen erzeugen. Für diejenigen, die dennoch auf Erklärung bestehen, hat Walser zuletzt noch spöttisch ein Placebo parat: “Überlassen wir die zeitgemässe Beantwortung dieser Frage den Herren der Wissenschaft’. Die habens Patent drauf.” Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, was Walser von jenen “zeitgemässe” Patentantworten im Gewande sogenannter Wissenschaft hielt: Nichts.
Eine solch fundamentale Kritik könnte wohlfeil klingen, stünden nicht tiefste eigene Erfahrungen hinter ihr. Ja, Walser macht die Frage, ob einer Künstler sei, sogar direkt davon abhängig, ob der Betreffende die Regionen jenseits von Verstand und Gewissheit durchmessen und auszuhalten gelernt habe. ,,Immer dicht vor dem Sturze” sieht er den Künstler, und er führt fort ,,Dass er nie zur Sicherung oder Versicherung seiner selbst gelangt, scheint sein Los. […] Verloren in den Abgründen der Mutlosigkeit, gewinnt er oft das Beste: sich selbst; und vertieft in grosse Gedanken, verliert er sich wie Spreu in den Wind geworfen. […] Mit sich selbst stets im Unklaren, dünkt es ihn fürchterlich, auch nur von ferne irgendwelches Vertrauen zu sich zu haben und strotzt doch zugleich von Vertrauen zu sich selber.” (SW 15, 64) ,,Da er das Edle und Schöne nur im Ganzen erblickt”, heisst es weiter, „so lebt er auch gleich in das Ganze hinein.” (SW 15, 65) Dies stellt ihn notwendigerweise ausserhalb von Konvention und moralischer Eindeutigkeit, denn das Wahre lebt jenseits von Gut und Böse: ,,So wandelt er unter seinen Mitbürgern bald als Frivoler, bald als Brummbär, bald als moralisches Ungeheuer, und es ist doch immer nur die Sitte und Art, die er selber entdeckt hat, der er gehorchen muss.” (SW 15, 65) Die Gefährdungen, die mit einer solchen Vorurteilslosigkeit verbunden sind, betrachtet er als Indiz für die Wahrhaftigkeit seiner Bemühungen. Dass seine Gedanken ihm fortwährend ,,die gesunden Sinne zu verrücken drohen” (SW 15,64), ist das Natürlichste schlechthin.
,,Es könnte selbst zur Grundbestimmung des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntnis zugrunde ginge”, liest sich diese Überzeugung bei Nietzsche (II, 602). Man braucht nur Walsers 1910/11 entstandenes Prosastück ,,Grün” (I) zu lesen, um eine Ahnung davon zu gewinnen, wie schon die blosse Vertiefung in diese Farbe an den Wahnsinn streifen kann – und zwar nicht, weil der Beobachtende und Sinnende wahnsinnig wäre, sondern weil dies im Unbegreiflichen der sinnlichen Natur selbst begründet liegt. Walser beharrt in diesen und anderen Texten darauf, dass die Welt als das genommen, was sie ist – in ihrer Schönheit und Schrecklichkeit, im prekären Bedrohtsein allen Lebens und im Überirdischen allen Lachens darüber, in ihrer Abgründigkeit und tiefen tragenden Dünung – dass die Welt, genau besehen, über den menschlichen Verstand geht und etwas zutiefst Sinnverwirrendes hat, wenn man sich ihr schutzlos öffnet. Das Zuhausesein in der Welt ist mithin alles andere als eine Selbstverständlichkeit, für tief empfindende Naturen zumal. Denn wahrhaftig besehen eignet der Welt und dem Leben etwas immerwährend Unheimliches und Unauslotbares; unsicher ist alles, die physischen Bedingungen des Körperlichen ebenso wie die Wechselfälle der persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen. Das bisschen Vertrauen ins eigene Geschick und die nächste Umgebung beruht mithin eher auf einer Verdrängungsleistung denn auf Hellsichtigkeit, und dennoch ist dieses Vertrauen unabdingbar. Es sich immer wieder erwerben zu können, ist nur zu kleineren Teilen persönliches Verdienst – zu grösseren aber Glück. Wem es nicht blüht, der trägt in sich jenes schattenhafte Gespenst, das uns als Allegorie der Depression und Glücksverlassenheit in Walsers ,,Spaziergang” begegnet: der Riese Tomzack. ,,Ah, ich wusste, wer er war”, sagt der Spaziergänger, Walsers Alter ego. ,,Für ihn gab es keine Ruhe. […] Gänzlich ohne Glück, ohne Liebe, ohne Vaterland und Menschenfreude lebte er. Irgendwelchen Anteil nahm er nicht, dafür nahm auch an ihm und seinem Treiben niemand Anteil. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben schien zu gering, zu eng für ihm zu sein. Für ihn existierte keinerlei Bedeutung: doch bedeutete wieder er selbst für niemand irgend etwas. Aus seinen Augen brach ein Glanz von Unterwelten- und Überweltengram hervor, und ein unbeschreiblicher Schmerz sprach aus jener seiner müden, schlaffen Bewegungen.” (SW 7, 104)
Walsers Spaziergänger gelingt es jedoch, dem Riesen aus dem Weg zu gehen, wobei er ihn immerhin als ,,Freund” grüsst. Er gewinnt indes bald wieder die offene, helle Strasse und tritt wenig später in einen Tannenwald hinein, wo ihn ,,ein unnennbares Weltempfinden und ein damit verbundenes, gewaltsam aus er Seele hervorbrechendes Dankbarkeitsgefühl” (SW 7, 105) erfüllt – dafür, dass er die Schönheit der Welt erfahren darf und nicht jenem Schatten verfallen ist.
Und wie sah Walser, um zu einem dritten und vorläufig letzten Schlüsseltext zu kommen, den schon damals paradigmatischen „Fall Hölderlin”? Über ihn hat er sich in einem eigenen Prosastück geäussert, das erstmals 1915 in der “Vossischen Zeitung” und zwei Jahre später im Band “Poetenleben” erschien. Man darf annehmen, dass der Text zu grossen Teilen lediglich auf Lektüre-Eindrücken von Hölderlins Werk beruht und nicht auf vertieften biographischen Studien, wie Bertaux sie betrieben hat. Dem Eindruck folgend, den Walser von der Person Hölderlins aus dessen Gedichten gewonnen hat, stellt er in wenigen Sätzen eine grundsätzliche Unverträglichkeit zwischen Hölderlins poetisch-empfindendem Wesen und den Anpassungsnotwendigkeiten der bürgerlichen Welt fest: “Hölderlin hatte angefangen, Gedichte zu schreiben, doch die leidige Armut zwang ihn, als Erzieher in ein Haus nach Frankfurt am Main zu gehen, damit er sein Brot verdiene. Hierin ist die grosse, schöne Seele in der gleichen Lage wie der Handwerksmann. Verkaufen musste er den leidenschaftliche Hang nach Freiheit; unterdrücken den königlichen, kolossalischen Stolz. Der harten Notwendigkeit Folge war ein Krampf, eine gefährliche Erschütterung im Innern. In ein hübsches, elegantes Gefängnis begab er sich. Geboren, um in Träumen und Einbildungen zu schweifen und am Halse der Natur zu hängen, […] trat er jetzt in wohlhabenden Privathauses säuberliche, bürgerliche Enge und übernahm die für seine aufbäumenden Kräfte fürchterliche Verpflichtung, sich honett, gescheit und manierlich aufzuführen. Er empfand ein Grauen. Für verloren, für verschleudert hielt er sich, und er war es auch. Ja, er war verloren; denn er hatte nicht die erbärmliche Kraft, alle seine herrlichen Säfte und Kräfte, die nun verleugnet und verhehlt sein sollten, schändlich zu verleugnen. Da, da zerbrach, zerriss er, und er war von da an ein armer, beklagenswerter Kranker.” (SW XX, 116f.)
Zwei Dinge scheinen mir dazu bemerkenswert: Für Walser geht es hier um ein nachvollziehbares Scheitern, um ein Scheitern wiederum an der unüberwindlichen Diskrepanz zwischen einer Normalität, die auf Selbstverleugnung beruht, und einem hochfliegenden Charakter, der sich darin nicht zu schicken vermag. Daraus resultiert eine Katastrophe, in deren Verlauf Hölderlin zerbrach und als “Kranker” zurückblieb. Anders gesagt: “Krankheit” erscheint hier als finales Stadium eines lebensgeschichtlichen Verhängniszusammenhangs.
Zu diesem Schluss ist der Text indes bereits nach einer dreiviertel Seite gelangt. Damit ist er jedoch, wie man erwarten könnte, noch keineswegs zu Ende. Im Gegenteil – jetzt geht er erst eigentlich los. Auf den folgenden Seiten sucht Walser immer neue Bilder, die das “tonlose stille träge Zertrümmern himmlisch heller Welten” in Hölderlin anschaulich zu machen versuchen. Implizit gibt er damit zu erkennen, dass das Wort vom “bedauernswerten Kranken” so lange nichtssagend ist als es nicht durch vergleichende Bilder und durch imaginative Erzählung in eine lebendig-empathische Vorstellung verwandelt worden ist. Denn darum geht es – und nicht um eine begriffliche Beurteilung von Hölderlins Schicksal.
Eine Nebenbemerkung sei zu Walsers “Hölderlin“-Prosastück im übrigen noch gestattet. In der Forschungsliteratur ist es oftmals (wie Walsers Texte über Kleist, Lenz und Brentano) als ein verkapptes Selbstporträt Walsers verstanden worden. Ich teile diese deutung nicht. Mir scheint vielmehr die Art, wie Walser den Text im Band “Poetenleben” plaziert, recht deutlich dagegen zu sprechen. Auf die locker autobiographische Struktur dieses Buches ist schon verschiedentlich und zurecht hingewiesen worden. So gesehen mag es kein Zufall sein, dass auf den “Hölderlin”-Text das Prosastück folgt, das dem Band den Titel gab und ihn beschliesst: “Poetenleben”. Hier nun schildert Walser mit raffinierter rhetorischer Ironie ebenfalls einen jungen Dichter, der sich “verkaufen musste”, dies aber im Gegensatz zu Hölderlin geschickt und anschmiegsam vermochte, indem er eine grosse Zahl subaltemer Bürostellen bekleidete und sie immer wieder um des Dichtens willen preisgab. Hier haben wir viel eher ein Selbstporträt Walsers – und nicht im Prosastück über den gescheiterten Titanen Hölderlin. Nicht zufällig hatte es dort am Ende – halb gegen Hölderlin gerichtet – auch geheissen: “Könnte auf Grösse verzichten nicht auch Grösse sein?” (SW 16, 119)
Dennoch hat sich Walser auch später immer wieder mit Hölderlin beschäftigt. In einem Bleistift-Entwurf aus der Mitte der 20er fahre kommt er im gleichen Atemzug mit Nietzsche auf ihn zu sprechen und nennt ihn einen Fall “höchstgradiger Unerlöstheit” (AdB 5, 64). Man mag sich an dieser Stelle des gegenläufigen Satzes aus dem “Räuber”-Roman erinnern: “Erlösungen liegen uns ja immer so herrlich nah“. (AdB 3, 76) Das merkwürdige Nähe-Kontrast-Verhältnis Walsers zu Hölderlin wird auch im “Geburtstagsprosastück” deutlich, in dem sich der vielzitierte Satz findet ‘Hölderlin hielt es für angezeigt, d.h. für taktvoll im 40. Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüssen, wodurch er zahlreichen Menschen Anlass gab, ihn aufs Unterhaltendste, Angenehmste zu beklagen. Rührung ist ja etwas überaus Bekömmliches, mithin Willkommenes. Über einen grossen und zugleich unglücklichen Menschen weinen, wie schön ist das! Wieviel zarten Gesprächsstoff liefern solche unalltägliche Existenzen.” (SW 18, 213)
In dieses Prosastück floss allerdings auch die Erkenntnis des misslichen Umstands ein, dass Walser selber derlei zarten Gesprächsstoff nicht bot, er sich vielmehr sagen musste: “Wie unsäglich gewöhnlich wir eigentlich sämtlich geworden sind!” “Gehöre auch ich zu den Dichtern, die es darauf abgesehen haben, die Mitwelt durch Beweisablegung eines womöglich geradezu masslos normalen Verstandes zu erschrecken?” (SW 19, 213)
Dies nun doch nicht ganz. Dass Walser im damals geradezu atemberaubend biederen und rechtschaffenen Bern durch eine gewisse bohèmehafte Exzentrizität auffiel, ist bekannt. Gleiches gilt für die Tatsache, dass seine Umgebung dafür nicht eben viel Sinn besass. Einer künstlerisch-ungebundenen Lebensform wollte man keinen speziellen Toleranzspielraum einräumen in einer Zeit, da das Ideal des Schweizer Dichters vom schreibenden Sekundarlehrer repräsentiert wurde und nur die Heimatkunst als unverdächtig galt. Literatentum war unter diesen Vorzeichen gleichbedeutend mit grossstädtischer Haltlosigkeit und intellektueller ‘Zersetzung’, weswegen es auch eine literarische Bohème weder in Bern noch sonstwo in der Schweiz gab. Wenn dennoch jemand glaubte, eine solche Lebensform pflegen zu sollen, so empfand man ihn einfach als Rumtreiber, Kneipenhocker und Tagedieb, d.h. als einen, mit dem etwas nicht stimmte und den man am besten ‘versorgte’, Die gesellschaftliche Immunität gegen dergleichen Aussenseitertum war ebenso phänomenal wie machtgeschützt, und so bekam es Walser, wenn er wieder einmal angesäuselt durch die Lauben wankte, ohne Umschweife von den Passanten zu hören, dass einer wie er in eine Anstalt gehöre.
Da half es ihm auch wenig, wenn er sich auf seinen Bleistiftblättern kalligraphisch notierte: „Ich richte an die Gesunden folgenden Appell: Leset doch nicht immer nur diese gesunden Bücher, machet euch doch auch mit sogenannter krankhafter Literatur bekannt, aus der ihr vielleicht wesentliche Erbauung schöpfen könnt. Gesunde Menschen sollten stets gewissermassen etwas riskieren. Wozu, heilandhagelnochmal, ist man denn gesund?” (AdB 3, 68) Ein Künstler hingegen, so heisst es an anderer Stelle, “ist einer, der stets irgendetwas riskiert” (SW 19, 362), weswegen “Spiessbürger” – auch dies ist ein Zitat aus jener Zeit – “von Dichtern usw. immer fürchten, sie könnten ein bisschen „spinnen“.” (SW 19, 30) Gefestigten Existenzen war dementsprechend nur schwer zu vermitteln, dass ein gut schreibender Dichter als solcher gesund ist, selbst wenn er unter bürgerlichem Massstab als ‘krank” erscheint – wie umgekehrt ein schlecht schreibender Bürger dichterisch als “krank” einzustufen wäre (vgl. SW 8, 55). ,,Ich weiss heute intensiver als je” – so Walsers Fazit im ,,Räuber”-Roman, ,,dass es in den Kreisen der Gebildeten sehr viel Spiessiges gibt, ich meine Angsmeierliches in sittlicher und ästhetischer Hinsicht. Ängstlichkeit ist aber etwas Ungesundes.” (AdB 3, 68)
So präzise und berechtigt all diese Sätze und Erwägungen auch sind, so wenig können sie verdecken, dass sie aus einer Defensive heraus geschrieben wurden. Trotz der enormen Schöpferkraft, die Walser in der zweiten Hälfte der 20er Jahre beweist, ist nicht zu übersehen, dass ihn seine exponierte, vereinzelte Position aufreibt, dass ihn Krisen heimsuchen, dass er im Verkehr mit seiner Umwelt empfindlicher, dünnhäutiger und misstrauischer wurde. Gegenüber Seelig hat Walser daraus später keinen Hehl gemacht und von Schlaflosigkeit, nächtlichen Erscheinungen und Alpträumen berichtet, auch von Selbstmordgedanken und der Gewohnheit, die innere Angefochtenheit in Alkohol zu ertränken. Auch der Zeichner Emil Stumpp, der Walser im Frühjahr 1928 besuchte, will ein misstrauischscheues Wesen an ihm wahrgenommen haben, eine nervöse Sprunghaftigkeit, die ihn an Edvard Munch erinnerte, bisweilen auch einen ,,verbohrten und gefährlichen Ausdruck”, den seine Augen annehmen konnten (Annalen” Apríl 1928, S. 311). Andere Besucher wie Peter Storrer und Walter Kern von der Zeitschrift ‘Individualität” gewinnen diesen Eindruck jedoch nicht, sondern berichten sich vielmehr in gegenseitigen Briefen, dass sie bei ihren Besuchen Walser als einen ganz prachtvollen Kerl erlebt hätten, voll Witz, treffender Ironie und beachtlicher Trinkfestigkeit. Kurz: Die Zeugnisse sind so heterogen, wie wohl auch Walsers Befinden war – samt seiner Sympathie oder Antipathie gegenüber den jeweiligen Besuchern.
Was schliesslich zu jener krisenhaften Zuspitzung im Januar 1929 führte, kann nur unter dem Vorbehalt des Hypothetischen rekonstruiert werden. Carl Seelig hielt in seinen ,,Wanderungen” unter dem Datum des 23. April 1939 folgendes fest: ,,Stellen Sie sich” – habe Walser ihm berichtet – ,,meinen Schrecken vor, als ich eines Tages von der Feuilletonredaktion des ,Berliner Tageblattes’ einen Brief bekam, in dem mir angeraten wurde, ein halbes Jahr lang nichts zu produzieren! Ich war verzweifelt. Ja, es stimmte, ich war total ausgeschrieben, Totgebrannt wie ein Ofen. Ich habe mich zwar angestrengt, trotz dieser Warnung weiterzuschreiben. Aber es waren läppische Dinge, die ich mir abquälte. Immer ist mir nur das geglückt, was ruhig aus mir selbst wachsen konnte und was irgendwie erlebt war. Damals habe ich ein paar stümperhafte Versuche unternommen, mir das Leben zu nehmen. Ich konnte aber nicht einmal eine rechte Schlinge machen. Schliesslich war es so weit, dass mich meine Schwester Lisa in die Anstalt Waldau brachte. Noch vor dem Eingangstor habe ich sie gefragt ,Tun wir auch das Richtige?’ Ihr Schweigen sagte mir genug. Was blieb mir übrig als
einzutreten? ” (Seelig, 24).
Das erwähnte ,,Berliner Tageblatt” war die renommierteste Zeitung Deutschlands – Walsers bester Abnehmer. Ein Beitrag „unter dem Strich“ wurde mit 75 Mark honoriert. Von den zwei bis drei Prosastücken, die Walser dort monatlich unterbrachte, konnte er bereits leben. Andererseits liess sich auch leicht ausrechnen, was es bedeutete, hier fallengelassen zu werden – der Verlust des guten Namens wirkt in der klatschsüchtigen Branche des Feuilletons noch heute wie ein Laufmascheneffekt. Nach unten durchgereicht zu werden, war für einen 50-jährigen keine rosige Aussicht. Dieser Halbrauswurf – es war bereits der zweite ,,Klapf’ dieser Art – enthielt für Walser eine reale Bedrohung.
Hinzu kam eine nur allzu leicht verständliche völlige Erschöpfung. Gut viereinhalb Tausend Seiten Text hatte Walser in den zurückliegenden fünf Jahren geschrieben, d.h. rund 4O% des gesamten erhalten gebliebenen Werks. Auch wenn in seiner direkten Umgebung niemand etwas davon bemerkte: Walsers Fleiss war beispiellos und kam einer totalen inneren Ausbeutung gleich. Nach seinem täglichen Schreibexerzitium löste Walser die angestaute Bewegungsenergie, die Nervosität und die Einsamkeit des Langstreckenschreibers im Alkohol. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er so lange und auf solch einem Niveau durchgehalten hat – ohne dabei auch nur die geringste positive Resonanz zu finden. ,,Niemand wünschte ich, er wäre ich. /Nur ich bin imstande, mich zu ertragen: / So vieles zu wissen und so viel gesehen zu haben und / so nichts, so nichts zu sagen.” (AdB 2,338) Verglichen mit solcher Einsicht eignet einer landläufigen Depression fast etwas Naives. Walser scheint sich zuletzt in einem überwachen Erschöpftheitszustand befunden zu haben, der sich mit zunehmender Schlaflosigkeit immer weiter verschärfte und schliesslich ein Ausmass affektiver Reizempfindlichkeit erreichte, die seiner Kontrolle entglitt und ihn für seine biederen Vermieterinnen ebenso befremdlich wie bedrohlich erscheinen liess. Sie alarmierten Walsers Schwester, ihr Bruder leide an Verfolgungswahn, ohne dass wir über die Hintergründe dieses Eindrucks heute Genaueres wüssten.
Lisa Walser aber lebte offenbar seit je in der Überzeugung, einer erblich belasteten Familie anzugehören (weswegen sie 25 Jahre zuvor sogar auf eine Heirat verzichtet soll). Als habe sie bei ihrem Bruder den Ausbruch einer ,Geisteskrankheit’ quasi schon erwartet, hielt sie sich nun nicht lange mit Gesprächen oder einem Beratschlagen von Gleich zu Gleich auf, sondern brachte ihn umgehend zum Psychiater Walter Morgenthaler. Dieser fand Walser ,,gemütlich deprimiert”, ohne ihn für suizidgefährdet zu halten. Walser selbst klagte über Angstzustände und die Unfähigkeit zu arbeiten. Da weder die Schwester sich imstande (oder willens) zeigte, ihren Bruder bei sich aufzunehmen, noch Morgenthaler Zeit hatte, Walser in Behandlung zu nehmen, empfahl er ihm, sich an die Waldau zu wenden – was auf Drängen Lisas dann auch geschah.
Mit anderen Worten: Die Anstalt kam aus rein praktischen Erwägungen ins Spiel, da niemand sich in der Lage sah, sich um Walser zu kümmern, man ihn aber auch nicht sich selbst überlassen wollte. Im heutigen Vokabular würde man sagen: Es fehlten niederschwellige Hilfsangebote. Bemerkenswert dabei ist, dass Walsers eigene Vorstellung, wie ihm geholfen werden könne, nicht von Gewicht war. Auch diesmal – wie bei seiner krisenbedingten Rückkehr aus Berlin im Jahh 1913 – wollte er wieder eine Zeitlang bei seiner Schwester im Jura-dorf Bellelay verbringen, um sich dort auszuruhen und innerlich wieder zu festigen. Man könnte Lisas Weigerung heute leichter verstehen, wenn sie nach aussen hin ihre Ambivalenz gegenüber Walser nicht Permanent verleugnet und so getan hätte, als würde sie das Möglichste zum Wohle ihres Bruders tun. Dass diese sentimentalen Beteuerungen auch eine verlogene Komponente hatten, lässt sich erst heute belegen, nachdem ein Brief des älteren Bruders Oskar an Lisa auftauchte, der ein Jahr zuvor die beiden Geschwister in einer Diskussion darüber zeigt, wie Walser die Verfügungsmacht über ein kleines Erbschaftsvermögen entzogen werden könne. Offenbar fürchteten beide, der in ihren Augen faule Bruder Leichtfuss bringe das Geld einfach durch und werde ihnen später auf der Tasche liegen. So abwegig dieser Verdacht auch war, so dankbar sahen sich Oskar und Lisa doch der Peinlichkeit, praktische Vorkehrungen gegen eine solche Entwicklung zu treffen, durch Walsers psychiatrische Internierung enthoben. Dass der Krankheitsbegriff der Psychiatrie von dergleichen Zusammenhängen per se abstrahiert und alles auf medizinische, d.h. persönlich neutrale Faktoren reduziert, mag manchen offenen oder latenten Konflikt elegant entscheiden – allerdings um den Preis der Verschleierung wesentlicher Hintergründe. Es bleibt jedenfalls ein schwerwiegendes Problem, dass der Focus der psychiatrischen Diagnostik ganz auf den Einzelnen und die Phänomenologie seiner ,Störungen“ ausgerichtet ist und kein methodisches Sensorium für die Frage hat, ob hier nicht einer schlichtweg kapituliert – vor einer Übermacht von widrigen Umständen oder dem Labyrinth menschlicher Verstrickungen.
Mir scheint, dass Walser so einer war, der kapitulierte – nicht gesamthaft, aber doch nach und nach zu bestimmten Teilen. Zunächst war es das Schweigen seiner Schwester vor der Türe der Waldau, dessen unausgesprochenem Imperativ er sich unterwarf. Dann war es der Aufnahmearzt der Klinik, der den Aussagen Lisas augenscheinlich grösseren Wert beimass als denen des Patienten und dessen suggestivem Fragen Walser zuletzt nachgab: ,,Gibt schliesslich zu, Stimmen zu hören”, liest sich dies im Aufnahmebericht der Krankengeschichte. Und dann war es die Forderung, das Formular eines freiwilligen Eintritts zu unterzeichnen. Walser lehnte dies zunächst ab – die Internierung schade seinem Schrifstellernamen, wie er überhaupt fürchte, nie wieder entlassen zu werden -, bis er zuletzt auch hier klein beigab und die Unterschrift widerstrebend leistete. Und damit war aus dem freien
Schriftsteller Robert Walser ein Patient geworden, einer der zur Hauptsache durch seine ,Krankheit Schizophrenie’ charakterisiert war und dadurch, wie er sich dem Anstaltsbetrieb einfügte.
Zum Vergleich stelle man sich nur einmal vor, Walser wäre reich und berühmt gewesen wie ein Thomas Mann – wie anders wäre alles wohl abgelaufen. Wie sehr hätte sich jeder bemüht, dem nervösen Genius in der zuvorkommenden Atmosphäre eines Privatsanatoriums Linderung seiner neurasthenischen Zustände zu verschaffen. Eine psychiatrische Diagnose, welche die grosse Persönlichkeit des Dichters hätte in Frage stellen müssen, hätte sich von selbst verboten, ebenso wie natürlich alle direktiven Verfügungen. Doch im Falle Walsers lagen die Macht-, Geld- und Prestigeverhältnisse eben anders, auch wenn dies die psychiatrische Diagnostik in keiner Weise reflektiert. Ihm blieb nichts anderes, als nachzugeben.
Das Eigentümlichste aber mag sein, dass die Hauptkapitulation erst noch kam. Er wolle wieder entlassen werden, bat Walser sowohl am ersten wie am zweiten Tag seiner Internierung, um bei letzterer Gelegenheit hinzuzufügen: Es gehe ihm hier zu gut. Sehr rasch spürte Walser, dass die halb-unpersönliche Fürsorge des Anstaltsbetriebs für einen bislang schonungslos Exponierten seine Annehmlichkeiten haben konnte – gleichzeitig aber untüchtig machte, die Fröste der Freiheit zu bestehen. Man wird ihn beschwichtigt und beredet haben, doch zu bleiben – er schlafe ja noch so schlecht. In der Tat, das war ein Argument, und es war gleichzeitig eine Einladung, weiteres und weiteres von jenem Stolz abzutun, von dem Walser – der ,,unbedingte Selbsterzieher” – bislang beseligt war. Und er tat diesen Stolz ab, bis es nicht mehr das geringste Kennzeichen bürgerlicher Reputation gab, auf das ein Stolz sich hätte beziehen können. Wussten seine Psychiater, was dies bedeutete? Was es heisst, sich zurückzunehmen bis zur Nichtswürdigkeit? Ich bezweifle es – ja, ich bin bitterer Weise sogar überzeugt, dass sie keine Ahnung davon hatten. Nicht nur, weil Demut keine Voraussetzung zur Ausübung dieses Berufs ist – nein, für die damaligen Ärzte (und für die meisten heutigen) war Walser einfach ein klarer Fall: Man hatte ein Kardinalsymptom – das Stimmenhören -, und in übrigen war der Patient fügsam und ruhig. Warum sich also näher mit ihm befassen? Noch heute ist es für einen Aussenstehenden erstaunlich, wie wenig die meisten Anstaltspsychiater auf ihren Stationen präsent sind, wie wenig sie oft vom Schicksal, den charakterlichen Eigen-heiten, aber auch von den Stärken der Patienten wissen – wie wichtig verglichen damit aber die Frage ist, ob die Patienten mit den Eigengesetzlichkeiten des Betriebes harmonieren. Dies ist meist das Kriterium für eine Besserung (bzw. heute für die Wirksamkeit von Medikamenten).
Gemessen daran hätte Walser eigentlich bald entlassen werden müssen, doch im Trott der damaligen Verwahrungspsychiatrie fiel dies niemandem auf. Erst als ein neuer Direktor der Klinik gewählt wurde, änderte sich dies. Ich möchte gewiss nicht als Freund prof. Jakob Klaesis gelten – seine Dauerschlafexperimente mit 10%iger Probandenmortalität, seine öffentliche Parteinahme für die eugenischen Gesetze der Nazis und sein vielfaches, freudiges Auftreten im Deutschland der späten 30er Jahre strömen einen schwer erträglichen Geruch aus. In einem aber pflichte ich ihm bei, in der Überzeugung nämlich, dass längere Anstaltsaufenthalte den Betroffenen mehr schaden als nützen. Und so hielt er Musterung unter den 1200 Patienten der Waldau mit dem Ergebnis, Robert Walser sei entlassungsfähig.
Warum aber kam es zu Walsers Entlassung schliesslich nicht? Zum einen, weil die Institution Psychiatrie damals kein aktives Interesse daran hatte. Wenn die Ausnahme einer Entlassung einmal eintrat, so sollte das der Patient gefälligst selbst bewerkstelligen und schauen, wie er draussen zurecht kam. Im Frühjahr 1933 aber herrschte Wirtschaftskrise, und die deutschen Redakteure, mit denen Walser nach wie vor in Kontakt stand, waren zum Teil vor Hitler geflohen. Walser schrieb ja noch immer, auch wenn sein letztes Buch mittlerweile vor acht Jahren erschienen war – eine halbe Ewigkeit in dieser schon damals schnelllebigen Branche, zumal an einer politischen Zeitenwende. Walser also wartete ab und wiederholte seinen früheren Wunsch, zunächst zu seiner Schwester zu gehen. Diese aber sagte erneut nein. Dem Vorschlag, in eine landwirtschaftliche Kolonie einzutreten, verweigerte sich Walser: Er sei kein Bauernknecht, sondern Schriftsteller – diesen einzigen Stolz hatte er noch.
Damit blieb zuletzt der versorgungspflichtige Heimatkanton; in Appenzell Ausser-Rhoden musste man nolens volens, d.h. von Gesetzes wegen für Walser aufkommen, auch wenn die Familie schon seit zwei Generationen dort nicht mehr ansässig war. So verlegte man Walser im Juni 1933 nach Herisau, obwohl er wenige Tage zuvor noch als entlassungsfähig gegolten hatte. Einmal mehr waren es rein praktische Gründe, die den Ausschlag gaben. Um so mehr war man in Herisau bestrebt, der Sache den Anstrich einer medizinischen Notwendigkeit zu verleihen. Auf der Krankengeschichte firmierte Walser nun als chronisch Schizophrener.
Ein Entmündigungsverfahren kam dann allerdings erst ein dreiviertel Jahr später in Gang. Auslöser war ein Wertpapier, das Walser zur Anlage des erwähnten Erbvermögens gekauft hatte und das nun fällig wurde. Der Klinikleitung schien jedoch nicht opportun, dass ihr Patient plötzlich über flüssige Mittel verfüge. Von der Bank im voraus diskret in Kenntnis gesetzt, ergriff man rasch die nötigen Vorkehrungen und beantragte nun Walsers Entmündigung. Das entsprechende Gutachten verfasste Dr. Otto Hinrichsen, seines Zeichens Klinikdirektor und Autor zahlreicher Theaterstücke – ein Mann, der sich Walser auch als Dichter weit überlegen fühlte. Er attestierte dem Patienten zwar, er sei ,,zeitlich, örtlich, persönlich orientiert, luzid, ruhig, freundlich im Umgang” – man könne sich sogar ,,sehr wohl mit ihm unterhalten”; auch räumte er ein: ,,Welche Wahnideen heute noch bestehen, lässt sich nicht sagen, da Patient sich nicht ausspricht. Lebhafter halluziniert er auf jeden Fall zur Zeit nicht mehr.” Doch all dies hinderte Hinrichsen nicht, ohne Nennung eines wirklichen Symptoms abschliessend festzuhalten: ,,Auf Grund seines geisteskranken Zustandes ist Herr Robert Walser nicht fähig, seine eigenen Angelegenheiten richtig zu besorgen. Die Bevormundung nach Art. 369 Z.G.B. ist deshalb berechtigt.” Walser stimmte dem Antrag im übrigen keineswegs zu, sondern widersprach ihm. Das zuständige Gericht in Bern entschied in Abwesenheit des ,,Beklagten” und verfügte dessen Entmündigung. Die Kosten des Verfahrens gingen auf Walsers Kosten.
So weit, so makaber, Was aber ist mit Walsers Stimmen? Bis dato war von ihnen nur ein einziges Mal die Rede: in jenem Aufnahmebericht vom 25.1.1929. Danach in der gesamten Krankengeschichte der Waldau nicht mehr. Nirgends auch eine Notiz etwa derart, der Patient begründe absonderliche Handlungen mit dem Hinweis, seine Stimmen beföhlen ihm dies. Die Auswirkungen auf Walsers Verhalten waren gleich null, so dass selbst Hinrichsen noch in seinem Antrag zur Entmündigung überzeugt war, der Patient leide ,jedenfalls nicht” unter lebhafteren halluzinatorischen Zuständen. Dann aber kam es zu einer gerichtlichen Einvernahme durch den appenzellischen Bezirkspräsidenten, in deren Verlauf Walser wohl klar gemacht wurde, dass sein Widerstand gegen die Entmündigung keine Chance habe. Und am gleichen Tag findet sich in der Krankengeschichte erstmals ein Eintrag, der von ,,stimmen,, spricht (wobei nicht einmal zu entscheiden ist, ob Walser hier nicht bloss die Begründung des Verdikts zitiert, mit dem er in der Einvernahme konfrontiert worden war.)
Mehr als fünf Jahre war Walser schon interniert, als es zu dieser Premiere kam. Eine besondere Sorgfalt bei der selbstkritischen Untersuchung einmal festgestellter ,,Symptome” kann man Walsers Ärzten leider nicht nachsagen. Oben habe ich bereits erwähnt, dass jeder, dem ein flagrantes Unrecht begegnet, ohne weiteres die Anfangsgründe des Stimmenhörens kennenlernen kann. Dass Walser im Verlauf des chancenlosen Widerspruchs gegen seine Entmündigung irgendwann das Gefühl bekam, die Umstände hätten sich in ungeheuerlicher Weise gegen ihn verschworen, liesse sich meines Erachtens nachvollziehen. Denjenigen möchte ich jedenfalls sehen, der eine solche Behandlung verdaut, ohne ein Stück weit an sich und der Welt irre zu werden.
Und so mag sich in ihm etwas verselbständigt und vollends ins Negative gewendet haben, was er früher als Quelle des Kreativen in sich kannte. Als ,,innerlich Stimmbefähigten” hatte er sich noch wenige Jahre zuvor bezeichnet, und darauf hingewiesen, schon die Griechen hätten ,,innere Stimmen anhörenswerter” empfunden als äussere (AdB 5, 27). Es war folgerichtigerweise sogar sein Stolz, ein ,,vieltöniger Mensch” zu sein: ,,ein wahres Orchester” von Persönlichkeit (AdB 1, 243). Die Ambivalenz, welche diesem Phänomen bisweilen innewohnte, wurde allerdings ebensowenig verschwiegen: ,,Es plagten ihn damals sozusagen gewisse innere Stimmen”, heisst es vom Helden des ,,Räuber”-Romans. Wer sich einem Fliessen überlässt, ist eben niemals Herr aller Strömungen. Nun aber hatte die Entwicklung eine Richtung angenommen, die wahrhaft nicht seine eigene war und selbst vom unübertroffenen Bejahungskünstler Walser nicht mehr affirmiert werden konnte, ohne in einen unvermittelbaren Gegensatz zu seinem Selbstbewahrungswillen zu geraten. Dieser Widerspruch war nach menschlichem Ermessen nicht zu beruhigen, so sehr sich Walser auch bemühte, dem Ganzen keinen Wert beizumessen. ,,Dass sich in einem von Haus aus ernsten Menschen etwas wie eine heimliche Tragödie abspielte”, hatte Walser schon früher geschrieben, „schien niemand notieren zu wollen, und so achtete kein Mensch auf die, wie man sagen möchte, in jeder Art und Weise bizarre oder elegante Zerstörung einer Seele.” (SW 20, 234)
In der Tat, in der Anstalt achtete niemand darauf. Die Tragödie sah dann erst zwei Jahre später ein Aussenstehender: Carl Seelig. Welches Mass an Respekt, Diskretion, Einfühlungsvermögen und Engagement er für Walser aufbrachte, hätte eigentlich jeden Psychiater beschämen müssen. Das Gegenteil aber war der Fall. Als ein Jahr nach Walsers Tod Seeligs ,,Wanderungs”-Buch erschien, wurde es von manchem der Ärzte als Produkt einer freien Phantasie bezeichnet – nie und nimmer sei Walser in der Lage gewesen, sich noch auf einem solchen Niveau zu unterhalten. Die hohe Authentizität von Seeligs Buch hat sich durch biographische Forschungen unterdessen erwiesen, während andererseits in Walsers Krankengeschichte nachgelesen werden kann, dass einer der behandelnden Ärzte es für eine wahnhafte Phantasie des Patienten hielt, als dieser bemerkte, er habe einst in Berlin als Journalist und Schriftsteller gelebt.
Des ungeachtet sind noch heute die Beiträge von Psychiatern zum ,,Fall Walser” durchweg apologetisch gestimmt. Als die Robert Walser-Gesellschaft im vergangenen Herbst ihre Jahrestagung in der Klinik Herisau abhielt, vetraten alle anwesenden Psychiater die Ansicht, die Diagnose Schizophrenie und die Internierung sei berechtigt und sinnvoll gewesen (auch wenn ein Klinikaufenthalt heute natürlich weitaus kürzer ausfalle). De Einschätzung der Ärzte stützte sich jeweils nur auf die Kenntnis der Krankengeschichte, bisweilen noch nicht einmal darauf. Von den gut zwei Dutzend Psychiatern, die das Robert Walser-Archiv in den letzten 20 Jahren besucht haben, konsultierten überhaupt nur drei diese Dokumente. Weiterführende Unterlagen wie Zeugnisse Dritter oder ungedruckte Briefe und Texte Walsers zog keiner von ihnen zu Rate. Die Tendenz zur selbstgewissen Ferndiagnose hält also an. Ein in Quellenkritik geübter Philologe kann nur staunen, wo solche Urteile ihren Objektivitätsanspruch hernehmen. Dazu passt die spiegelbildliche Tatsache, dass für den historischen, nicht-medizinischen Forscher die Quellen fast nirgends so schwer und restriktiv zugänglich sind wie bei psychiatrischen Akten – die Archive des Vatikan und kommunistischer Parteien einmal ausgenommen. Solange sich die Psychiatrie diesbezüglich nicht den heutigen Standards der scientific community öffnet, wird ihr Ansehen als Wissenschaft immer ein fragwürdiges bleiben.
Doch zurück zu Walser bzw. einem weiteren Schweizer Autor: Walser hat, soviel man weiss, in Herisau nicht mehr geschrieben. Auf Seeligs ebenso gutgemeinte wie naive Frage, ob ihm nicht ,,das Milieu der Anstalt und seine Insassen einmal einen originellen Romanstoff” bieten könnte (Seelig, 14), winkte er nur ab. ,,Es ist ein Unsinn und eine Roheit”, so seine Überzeugung, ,,an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit.” (Seelig, 26) Es gab indes in Walsers Zeit einen Autor, der ebenfalls psychiatrisch interniert war und der dennoch schrieb, und zwar genau das, was Seelig Walser suggerieren wollte: einen Roman über die Anstalt, Gemeint ist Friedrich Glauser. Walser hat diesen rimbaudhaften Autor der nächstjüngeren Generation gekannt und ihn – im Gegensatz zu seiner Geringschätzung für seine sonstigen Schweizer Kollegen – sogar hochgeachtet. Womöglich haben sich Walser und Seelig auch einmal über ihn unterhalten, denn Seelig rezensierte Glauser damals enthusiastisch und Walser schrieb 1941 in einem Brief: ,,Nicht war, das ist wieder ein Erfolg im Kino, der Wachtmeister Studer von Glauser, der ihn leider nicht mehr hat erleben wollen, weil er vielleicht an keinen mehr geglaubt hat. So geht’s oft im Leben, dass solche, die Helden werden, zu bescheiden sind um sich eine derartige Rolle zuzutrauen.” (Briefe, 359) Es ist, soweit ich sehe, die einzige grössere auf Literatur bezogene Briefäusserung in Walsers gesamter Anstaltszeit. Ob Walser von Glausers Psychiatrieschicksal wusste, steht allerdings dahin.
Dieses Psychiatrieschicksal ist so reichhaltig, dass man es spektakulär nennen müsste, wenn es nicht so deprimierend wäre. Dreizehn Mal wurde Glauser interniert, so dass er sieben einhalb Jahre seines nur 42 Jahre währenden Lebens in der Psychiatrie verbrachte. Hinzu kamen noch eineinhalb Jahre Gefängnis, Summa summarum verbrachte er fast die Hälfte seines Erwachsenenlebens nicht in Freiheit, entmündigt war er gar seit Beginn seiner Volljährigkeit. Glauser kannte die meisten Kliniken der Schweiz von innen und diente mehr als zwei Dutzend Psychiatern als Explorations- und Therapieobjekt. Fast alle diese Psychiater stellten unterschiedliche Diagnosen: von ,,Hebephrenie auf constitutioneller Basis” bis ,,Toxicomanie bei moralischem Defekt”, von degeneriertem Psychopath bis Dementia praecox findet sich so ziemlich alles, was die damalige Terminologie hergab, auf Glauser angewandt.
Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, der genaue Schilderer psychiatrischer Verhältnisse zu werden, dessen Texte noch heute lebhaft interessieren können. Im Grunde haben wir es in ihm mit einer Art Günter Wallraff der damaligen Psychiatrie zu tun. Als Morphiumsüchtiger war er nämlich nicht im mindesten verrückt oder psychotisch, vielmehr sah er seine ersten Psychiatrieaufenthalte als willkommene Gelegenheit an, neuen Stoff zum Schreiben zu finden. Umgehend ging er daran, die Psychiatrie in Erzählungen und einer Szenenfolge zu thematisieren, war indes selbstkritisch genug, zu realisieren, dass ihm die Texte misslangen. Dort aber, wo er seine Erlebnisse ohne literarische Ambition niederlegte, im Tagebuch für seine damalige Freundin, finden sich eine Reihe interessanter Beobachtungen.
,,Montag 16. Aug[ust 20]
Heute morgen wieder B II 6, d.h. das Zimmer war besetzt, so dass Hr. Dr. mich in sein Privatkabinett nahm. Assoziationen. Kindlich durchaus. Sonderbar seien nur die “Schlangen“-Assoziationen. Auf Hütte, Adler, Kamin – Schlange. Du entsinnst dich, Kleines. Das Molino. Dann weiterarbeiten am Vaterkomplex, den ich schon die früheren Male angedeutet habe. Es hat mich gefreut, dass ich bewusst assoziiere, logisch-sprachlich oder klanglich. Zuerst die Reizwörter mit einmaliger Assoziation und Zeitkontrolle, dann Wiederholen der Wörter ohne Zeitkontrolle. Dann Anhören einer Wortreihe und Frage, welche behalten wurden (Vater, Reue, Braut, Genuss: Zusammenstellung des Arztes. Es ist gut, selber bisweilen dem Psychiater gegenüber den Analytiker zu spielen), dann Reihenfolge von Gedanken auf die behaltenen Reizwörter. Ein paar Witze: mit dem Dröhnen der gnostischen Formeln losgedonnert bei Gott-Himmel-Teufel. Strindberg. Die Untersuchung ist für mich interessanter als für den Arzt. Er gähnt oft. Ich beobachte viel und gewinne ein ziemliches Bild
von dem Menschen. Einmal führe ich es aus, wenn es klarer ist. Auf alle Fälle sind die “Psychophagen“ hier sehr menschlich, versuchen es mit naiver Schlauheit, die sie stolz Raffinement nennen.
Gestern bin ich unterbrochen worden, musste wieder zur Untersuchung. Dr. Gl[aus] gab mir eine Karte von Raschles, die den Besuch absagten. Es war eine Abbildung einer Archipenko-skulpto-peinture. Daraufhin wurde ich über meine Ansichten betreffend moderne Kunst ausgefragt. Ich sprach lobend von A’s kubistischen Statuen, versuchte dem Herrn klarzumachen, es handle sich um neue Kunstwege, schmiss ihm Cézanne, van Gogh, Gris etc. an den Kopf, warf noch ägyptische Kunstwerke und Negerplastiken nach, protzte mit dem „Geistigen“ in der Kunst, um auf die Impressionisten überzugehen und deren „art“ in den Himmel zu heben, sprach von Arp und Dada, so dass der Herr zum Schluss nicht wusste, was ich eigentlich über dies spezielle Kunstwerk dachte. Es war erstaunlich, die Miene zu beobachten, als ich schloss:
“Und was halten Sie davon?”
„Ja, ich meine, natürlich…“ (Stottern)
Ich: “Übrigens ist mir ein Arch[ipenko] immer noch näher als ein Defregger” (dies peremptorisch). Damit war das Thema erschöpft. Es kamen die Assoziationen an die Reihe. Wenn die Ps[ychiater] doch raffinierter wären. Diebstahl (assoziiere ich): Reue, Zwang, Hunger. Vater: Strafe, Hass, nutzlos. Auf Hass: Vater, Schläge, Mitleid, Tränen, nutzlos, Hass, Literatur. Der arme Herr. Liso, ich bin so glücklich, heute mit dir allein schwatzen zu können. Man hat sonst niemanden. Amstein vielleicht, doch ist er launisch. Ich erzähl dir dann von ihm. Zum Schluss ein kleiner Witz.
Herrn Dr. Gl[aus] intrigiert mein Schlangenkomplex. „Wollen Sie mir nicht helfen, ihn zu lösen, Herr Dr.?” –
„Wir sprechen noch darüber.“ –
„Ich habe viel darüber nachgedacht. Vielleicht ist es bei mir eine unterdrückte homosexuelle Komponente.“
Er (hastig abschiednehmend, verlegen): “Es wird Ihnen schon einfallen, Herr Gl[auser],” Am liebsten hätte ich gegrinst; es entstand aber nur eine höfliche Verbeugung.”
Wenn ich kurz zusammenfassen darf: Der junge Glauser lässt sich von der Institution Psychriatrie keinerlei voreiligen Respekt einjagen, denn was ihm begegnet, ist nicht die Wissenschaft, sondern es sind bestimmte Ärzte. Und sein jugendlich erbarmungsloses Auge sieht sofort: dass zwischen beidem eine geradezu groteske Lücke klafft: Hier die Theorie mit ihrem hohen Wissensanspruch – dort der arme Psychiater Dr. G. in seiner naiv-überheblichen Harmlosigkeit, seinem lächerlich-begrenzten Spezialistenhorizont und seiner bürgerlich-verklemmten Betulichkeit.
Ob man Glauser nun spätpubertären Rigorismus vorwerfen will oder nicht, in einem hat er recht: Für den Patienten ist primär ausschlaggebend, mit was für Menschen er zu tun bekommt. Mit ihrer Glaubwürdigkeit (oder Unglaubwürdigkeit), ihrem Verständnis und Selbstverständnis steht und fällt alles. Wenn man von Glauser eines lernen kann, so die Einsicht, dass sich die Psychiatrie am konkreten Verhalten ihrer einzelnen Vertreter messen lassen und bewähren muss und weniger daran, was in Büchern an Lehren und Theorien wohlklingend formuliert sein mag. Es sind vorab die persönlichen Charaktereigenschaften, die menschlichen Qualitäten oder Defizite des Arztes, die eine produktive Beziehung zum Patienten ermöglichen (oder sabotieren). Darüber aber steht nichts in den Lehrbüchern, und selbst wenn – so wäre es doch noch immer nichts als graue Theorie.
Glauser ist dabei im übrigen keineswegs nur skeptisch – sein Wunsch, Hilfe zu finden, ist vielmehr dringend, seine Bereitschaft, sich leiten zu lassen, durchaus gross. Er ist sogar bereit anzuerkennen, in welch undankbarer Lage sich viele Psychiater befinden. Ich zitiere einen Brief vom 27. März 1936, der geschrieben wurde, als Glauser gerade an der Vollendung seines Psychiatrie-Romans “Matto regiert” sass:
“Wissen Sie, man muss gerecht sein. Es ist eigentlich sehr billig, über die Psychiater zu fluchen, und ich tu es ja relativ wenig, manchmal treib ich meinen Spass, weil man ja doch nicht gut alles ernst nehmen kann. Aber wenn Sie einmal hinter die Kulissen sehen könnten, was die kleinen Assistenten, deren Monatsgehalt geringer ist als das eines verheirateten Wärters, für Arbeit leisten. Es ist erstaunlich. Mit dem Vorgänger von Dr. Briner hab ich ja eine Zeitlang arbeiten müssen, er diktierte mir oft, und er kam kaum durch. Können Sie sich vorstellen, was das heisst, manchmal 98 bis 100 Fälle zu haben? Krankengeschichten nachführen, mit den Behörden verhandeln (das ist das Schönste, ein Heiliger könnte da die Geduld verlieren), und jeder von diesen 98 ist Mittelpunkt der Welt, man soll sich nur allein für seinen Fall interessieren, Und dann Gutachten. Und bei jedem Gutachten ist man doch Schicksal, spielt es wenigstens.”
Mit anderen Worten: Bei Lichte besehen, sind die Psychiater überfordert. Der Anspruch, der ihnen aus jedem einzelnen Patientenschicksal entgegenkommt, ist schon fast zuviel für einen Menschen. Daneben aber macht die Bürokratie ihre häufig absurden Notwendigkeiten geltend, der Anstaltsbetrieb geht seinen eigengesetzlichen Gang, und zu all dem intervenieren Angehörige und Familienmitglieder meist noch in wenig hilfreicher Weise. Wäre die Psychiatrie ehrlich, so müsste sie nach Glauser eingestehen, dass dies alles nicht zusammengehen kann, oder zumindest: dass die Hilfe für den Patienten nur scheinbar das vorrangige Ziel der Institution ist, das durch die organisatorischen Bedingungen der Klinik und das Menschlich-Allzumenschliche des Betriebs weitgehend konterkariert und diskreditiert wird.
In Glausers Psychriatrie-Roman “Matto regiert” finden Sie eine genaue Beschreibung der Mechanismen und menschlichen Reaktionsmuster, die den Anspruch der Psychiatrie in der Praxis häufig in ihr Gegenteil verkehren. Da ist der Typus Arzt, der den Aporien seines Gewerbes mit Autoritätsgebahren begegnet, der seine Anstalt wie ein Feudalreich regiert und primär darauf bedacht ist, seine Macht gegen alle und jeden zu sichern. Sein menschliches Differenzierungsvermögen ist bescheiden, sein Durchsetzungsinstinkt dagegen höchst entwickelt. Obwohl Glauser mehrfach mit allen Fasern seines Wesens gegen diesen Typus aufbegehrte (und dafür hat zahlen müssen), ist er dennoch in der Lage, zu sehen, dass gerade solche Patriarchen (“Psychopompen”, wie er sie nannte) einsam sein können und in ihrem Innern eigentlich schwach sind (und für diese Entdeckung musste er meist nochmals büssen).
Daneben schildert er einen weitere Fall: den strebsamen Sekundärarzt, der mit Ehrgeiz und Enthusiasmus die damals neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgenommen hat – von der Psychoanalyse bis zur Insulin-Therapie. Es ist der charismatische Arzt, der dem Patienten das Gefühl zu vermitteln versteht, sich ganz ihm zu widmen und ihm tatsächlich eine neue Zukunft öffnen zu können – bis der Patient irgendwann merkt, dass seine Heilung weniger um seinetwillen geschehen soll, sondern um den Ehrgeiz des Arztes zu befriedigen und ihm Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Klinik zu verschaffen. Wenn die Heilung nicht rasch und Aufsehen erregend genug vorangeht, verliert der Psychiater plötzlich das einstmals so vitale Interesse, beginnt in Besprechungen zu gähnen und ungeduldig zu werden, bis der Liebesentzug irgendwann manifest und das alte archaische Muster von Belohnung und drohender Strafe sichtbar wird.
Ja, Glauser geht noch tiefer und legt mit grösstmöglicher Luzidität die grundsätzliche Zwiespältigkeit psychotherapeutischer Arbeit dar, dass sie nämlich immer in der Gefahr ist, dem Patienten letztlich instrumentell zu begegnen statt als Mensch, dass sie zunächst eine höchst persönliche Beziehung herzustellen versucht, um sich ihr dann zu entziehen und aus der Distanz mit ihr zu operieren. Diesen Schock hat Glauser mehrfach erlebt, und der Vergeltungswunsch dafür ist noch als Antrieb in seinem Psychiatrie-Roman spürbar. Die charismatischen Manipulatoren der Psyche mögen genial sein (und womöglich wichtig für die Entwicklung der Fachdisziplin) – menschenfreundlich sind sie deswegen noch nicht. Glauser glaubt an ihnen zuletzt vielmehr nur noch ein taktisches Allmachtsgehabe zu erkennen, das sich hinter einem Maskenlächeln verbirgt, sich aber in unbewachten Momenten plötzlicher Ungeduld oder durchbrechender Schroffheit eben doch offenbart – oder in den merkwürdigen, im Treibhausklima der geschlossenen Klinikwelt aufblühenden Marotten, die Glauser an jeder seiner Psychiaterfiguren entdeckt: Hier der Mann mit dem affichierten Durchdringungsblick, dort der Arzt mit dem abgeklärten Skeptikergehabe, hier einer, der sich mit lateinischer Fachterminologie betont wissenschaftlich gebärden muss, dort ein anderer, der sich durch die beiläufige Zelebrierung geschmacklicher Eitelkeiten seine (vermeintliche) Überlegenheit zu verstehen gibt. Nicht, dass Glauser seine Psychiaterfiguren durchweg als ein menschliches Kuriositätenkabinett schildert, doch eines ist klar: Keiner der Psychiater kennt sein eigenes Bild oder wäre wirklich offen dafür, wie er auf die Patienten wirkt. Viele sind darüber natürlich latent unsicher, überspielen diese Unsicherheit jedoch mit nicht unbeträchtlichem Nachdruck.
Wer ein aktuelles Fallbeispiel dieser Diskrepanz von Selbst- und Fremdbild studieren möchte, dem sei Kerstin Kempkers bewegender Erfahrungsbericht “Mitgift“ zur Leküre empfohlen. Man bekommt hier den eingangs erwähnten Hölderlin-Interpreten Peters aus der Sicht einer Patientin als klinischen Praktiker geschildert. Die Darstellung ist sachlich reflektiert und durchaus frei von Ressentiments, zeigt den feinsinnigen Buchautor jedoch in merkwürdig anderem Licht. Sichtbar wird ein Ordinarius, der sich jederzeit im Recht weiss, dem das sporadische Eingehen auf die Patientin hauptsächlich zur narzistischen Bestätigung der eigenen Offenheit dient, der im übrigen aber alles Konflikthafte unter geradezu lebensgefährlich hohen Dosierungen von Psychopharmaka begräbt und zuletzt der andernorts genesenen Patientin den Rechtsanspruch auf Einblick in ihre Krankenakte verweigert. Es scheint, als habe sich diesbezüglich seit Glausers Zeiten wenig geändert. Einer kritischen Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Selbstbild und Fremdbild geht die Psychiatrie nach wie vor mit Vorliebe aus dem Weg, schon gar, wenn es die patriarchalischen Exponenten ihrer Institutionen betrifft.
Es mag unter diesem Blickwinkel nicht verwundern, dass in Glausers Texten die wirkliche Hilfe weniger von Ärzten, als von anderen Personen ausgeht. Da gibt es z.B. die Geschichte von einem Patienten, der nach einer Lebenskatastrophe in ein abgrundtiefes Schweigen verfallen ist und den weder die umtriebige Ärztin noch der Verständnis signalisierende Therapeut zum Sprechen bringen kann. Als jedoch ein ebenfalls vom Leben gebeutelter Pfleger wortlos mit ihm die verbotene Zigarette raucht, löst sich plötzlich das Schweigen. Oder da ist die warmherzige Krankenschwester, die nicht lange über Symptome und ihre Ursachen raisoniert, sondern ganz praktisch bei der Lebensbewältigung hilft und so den Patienten das verlorene Selbstvertrauen wiedergibt. Gemeinsam ist diesen Figuren, dass sie dem Patienten nicht zu nahe treten (wie dies sonst aus therapeutischen Gründen so gerne geschieht), sondern eine scheue Achtung vor seinem Unglück haben.
Was hier deutlich wird, ist meines Erachtens zweierlei: Für Glauser leiden die Menschen, denen er als Patienten in der Psychiatrie begegnete, nicht an Krankheiten, sondern sie sind Leidtragende (ich bitte dies wörtlich zu verstehen: Leid-Tragende) einer offenen oder verdeckten Tragödie. Da dies so ist, kann man ihnen auch nicht dadurch helfen, dass man aus einer Diagnose mehr oder weniger regelhaft eine Therapie ableitet. Eine Psychiatrie, die solcherart vorgeht, ist für Glauser grundsätzlich selbstverblendet und ihr therapeutischer Anspruch eine Anmassung.
Statt dessen gebietet eine Tragödie zunächst eins: Respekt, wenn nicht gar die Bereitschaft, sich innerlich vor einem Unglück zu verneigen. Ein Therapeut, der das Erlebnis der Vergeblichkeit und Tragik nicht selber an sich durchgefühlt und hinzunehmen gelernt hat, ist für Glauser keiner. Helfen kann nur der, dem eine natürliche Selbstbescheidung zugewachsen ist, an dem ein diskretes Mitleid spürbar ist, der vor schicksalhaftem Unglück Achtung bewahrt, und dennoch unaufdringlich in der Lage ist, Lebensvertrauen, Kraft und Zuversicht auszustrahlen.
Eine solche Haltung ist für Glauser unabdingbar, da menschliche Schicksale und Lebensgeschichten nicht einfach medizinisch oder therapeutisch umkehrbar sind, wie man beispielsweise einen Handschuh wenden kann. Wenn es eine Heilung gibt, dann eher wie bei Wunden (die langsam, langsam vernarben) und nicht wie bei Krankheiten, deren Ursachen man zu beseitigen versucht. Es gibt im “Matto regiert” den Fritz Leibundgut, der nur reden kann, wenn er sich vor dem Gesprächspartner wie ein Hund auf alle Viere niederlässt. Die Vorgeschichte dieses authentischen Falls zeigt, welcher Brutalität der Betroffene damit zu begegnen versuchte und dass ihm tatsächlich nur diese extreme Demutsgebärde das Überleben ermöglicht hat. So sehr es zu wünschen wäre, dass es jemanden gäbe, der Leibundgut von dieser Vergangenheit befreien könnte, so vermessen ist dies in Glausers Augen zugleich. Denn wer Schicksale mit technisch-therapeutischen Mitteln einfach nur auszutilgen versucht, beraubt die Betroffenen ihres Erfahrungskerns. Was nach Glauser hier vorliegt, ist nichts geringeres als eine Aporie – d.h. eine Situation für die es keine logisch-rationale Lösung gibt, sondern nur ein tastendes Lindern, das der Begrenztheit der Einflussmöglichkeiten eingedenk bleibt. Glauser weiss, wovon er spricht, denn es ist verbürgt, dass es seinen Psychiatern geradezu unheimlich wurde, mit welch magischer Intuition er bisweilen Zugang zu Mitpatienten fand, die sich entweder jahrelang völlig abgeschlossen oder sich in verstiegenste Wahnwelten verirrt hatten. Wenn ihm dies gelang, so wohl einzig deswegen, weil er es gar nicht eigentlich beabsichtigte, sondern für die Betroffenen ein Mitleid aus Hochachtung empfand und ein unausgesprochenes Wissen um ihre Tragik zu vermitteln wusste.
Vielleicht sollte man auch hier ehrlicher sein: Welcher Psychiater dürfte sich erlauben, so vorbehaltlos für den Patienten Partei zu ergreifen und ihm unabhängig von gesellschaftlichen Bewertungen, Erwartungen und Anforderungen zunächst einmal Genugtuung und persönliche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wo kämen wir da hin, werden Sie mit einem Anflug von Entsetzen wahrscheinlich fragen – und zwar durchaus zu Recht. Die Bedingungen unserer Welt sind zugegebenermassen nicht dafür geschaffen. Gleichzeitig sind die meisten Patienten keineswegs bloss unschuldige Opfer, im Gegenteil: Mir ist sehr wohl bewusst, dass viele von ihnen auch impertinent, hinterhältig, trotzig, nachtragend, gewalttätig und niederträchtig sein können, dass vieles an ihnen provoziert und provozieren soll (weswegen frühere Epochen ja auch drakonische Reaktionen darauf bereithielten). Auch dies ist etwas, was über das wissenschaftliche Wertfreiheitsgebot gern vergessen geht: Dass wir es mit einer Mischung von Tragödie und charakterlichen Eigenschaften zu tun haben, die unangenehm bis zur Perfidie sein können. Und auch hier wäre es gut, all dies nicht zu verleugnen, indem man nur von Krankheit spricht. Ehrlich sein hiesse vielmehr, einzuräumen, wie unendlich schwierig die Sandwich-Position der Psychiatrie zwischen gesellschaftlichen Forderungen und der hochproblematischen Tragik von einzelnen ist, wie heikel es ist in diesem Spannungsfeld integer zu bestehen – zumal gerade psychotische Menschen ein seismographisches Empfindlichkeit für kleine taktische Beziehungslügen haben, die ihnen gegenüber fast unausweichlich scheinen. Ehrlich sein hiesse weiter, dass bei der Frage, wer einer Seele sagen könne, woran sie erkrankt, niemand das ,,Patent drauf” hat – auch nicht die ,,Herren der Wissenschaft”. Zu fragen wäre vielmehr, ob sich in ihren Theorien und Terminologien nicht auch ein gerüttelt Mass an Abwehrverhalten verbirgt, sei es, dass man in hypothetischen Krankheitseinheiten allgemeine Ursachen des individuellen Problemgeschehens zu erkennen glaubt, sei es, dass man mit Begriffen wie ,endogen’ oder ,borderline’ Staat zu machen versucht, die in Wahrheit nichts anderes bedeuten als: Genaues wissen wir nicht. Ehrlich sein hiesse schiesslich, zuzugeben, wie leicht wir alle dazu neigen, dem prekären Leben von Patienten durch Diagnosen und therapeutische Erwartungen ein verklausuliertes Nein entgegenzubringen, statt ein elementares menschliches Ja. Nur dann gilt Walsers Satz: ,,Erlösungen liegen ja immer so wunderbar nah.” Darauf zu vertrauen ist gewiss alles andere als leicht, doch man sollte man vielleicht doch etwas mehr Mut und Menschlichkeit beweisen, denn: „Man würde sich sehr täuschen, wenn man alle Kranken zur Gruppe oder Kategorie der Geschwächten zählte, da sie seelisch oft über weit mehr Widerstandsfähigkeit verfügen als die sogenannten Gesunden.“