Aus den Blättern eines Immunen,
Walser und der Wahnsinn

Bernard Echte

Zu den besonders rätselhaften, ja fast unheimlichen Zügen von Robert Walsers Biographie gehört es, mit welcher Hellsicht er das tragische Ende seines Schriftstellerlebens schon früh vorhergesehen zu haben scheint. Nicht nur für seinen einsamen Tod im Schnee gibt es ahnungsvolle Vorwegnahmen im literarischen Werk – auch zu seinem Verschwinden und Verstummen in der Psychiatrischen Klinik finden sich Passagen von geradezu bestürzend genauer Prophetie. Jakob von Gunten, den der Traum “von einer selbsterrungenen Lebenslaufbahn” paradoxerweise in eine Dienerschule eintreten lässt, macht sich dort auf “etwas Schweres und Düster-Daherkommendes gefasst” (11′ 69): “Ein Schlag wird mich eines Tages treffen”, notiert er in sein Tagebuch, “so ein recht vernichtender Schlag, und dann wird alles, werden all diese Wirrnisse, diese Sehnsucht, diese Unkenntnis, dies alles, diese Dank- und Undankbarkeit, diese Lügen und Selbstbetruge, dies Wissen-Meinen und dieses Doch-nie-etwas- Wissen zu Ende sein.” (1L, 97) “Dann werde ich”, so schreibt er weiter, “den Kopf […] neigen. Die Arme und Beine werden mir seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles wird brechen und welken, und ich werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot, und dann werde ich vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben.” Schon Jakob von Gunten scheint diese Lebensaussicht jedoch seltsam widerstandlos hinzunehmen: “Ich habe kein Bangen vor mir”, hält er fest, “ich flösse mir durchaus keine Angst ein.” $L, L44)
Furchtlosigkeit und Schicksalsergebenheit gehören gewiss in besonderem Mass zu Walsers Wesen. Doch ist sein Leben tatsächlich von einer solch unausweichlichen Logik beherrscht, wie es die zitierten Sätze suggerieren? Muss man es als eine Art von Folgerichtigkeit auffassen, dass er zuletzt alsentmündigter und weitgehend vergessener Patient in der Psychiatrischen Klinik Herisau verschwand?
Gewiss, jede Schicksalsmetaphysik ist in hohem Grade spekulativ – die scheinbar sich erfüllende ebenso wie ihr Gegenteil: das kritische Beharren darauf, dass es zum traurigen Verlauf eines Lebens Alternativen gegeben hätte oder hätte geben müssen. Müssig sind dergleichen Ueberlegungen vielleicht dennoch nicht, vergegenwärtigt man sich beispielsweise jene Stelle in “Geschwister Tanner”, an der das Leben von Walsers Bruder Ernst zur Sprache kommt: Er war, trotz seiner vielversprechenden Anlagen und Talente, im Irrenhaus gelandet, was zwei Wirtshausgäste, die sich die Geschichte erzählen, zu der Frage veranlasst, ob der Grund für diese Entwicklung in der Familie liege. Da fährt Simon Tanner, der zufällig Zeuge der Unterhaltung wird, “mit der Röte des Unwillens auf den Wangen” dazwischen: “Was da? In der Familie? Da irren Sie sich, mein edler Herr Erzähler. Sehen Sie mich bitte einmal gründlich an. Entdecken sie an mir vielleicht auch so etwas, das in der Familie liegen könnte? Muss auch ich ins Irrenhaus kommen? Das müsste ich ohne Zweifel, wenn es in der Familie läge .” (9, 237) Eben dies aber bestreitet Simon vehement: “Die Menschen denken immer gleich an grausige Vererbung und so weiter. Mir erscheint das lächerlich.” – “Nein”, so sein Fazit, “in der Familie kann es nicht liegen. Ich leugne das, solange ich lebe.” Kein Zweifel, Walser setzte sich schon sehr früh mit der sogenannten ‘Belastung’ seiner Herkunft auseinander, allerdings in dem Sinne, dass er den Glauben an einen erblichen oder psychologischen Determinismus gerade zurückwies.
Wie aber erklärte er seinerseits das Schicksal seines Bruders? An der zitierten Stelle der “Geschwister Tanner” folgt nur die lapidare Feststellung: „Es ist einfach das Unglück.” (9,238).
Das Unglück – dies scheint auf den ersten Blick eine etwas zu einfache und unbestimmte Erklärung zu sein. Nimmt man das Wort jedoch ernst, so beinhaltet es nichts Geringeres als eine radikale Skepsis gegen jegliche ‘Erklärung’ überhaupt. Das Unglück ist ein Geschehnis jenseits von Erwartbarkeit und Kausalität; es stösst dem Einzelnen zu, ohne auf eine blosse Folge von Konstellationen oder Entwicklungen reduziert werden zu können. Immer eignet ihm etwas unvorhersehbar Besonderes, dem der Betroffene unterliegt. Das Unglück – mit diesem Wort ist eine elementare Dimension des Tragischen bezeichnet, die von heutigen psychiatrischen oder psychologischen Theorien gerade ausgeblendet zu werden scheint. In ihnen ist vielmehr von Krise, Störung oder Krankheit die Rede; das Vokabular ist ein durchgehend funktionalistisches. Diffus ‘unerklärbare’ Phänomene wie Leid, Unglück und Tragik kommen dagegen, wenn überhaupt, nur am Rande vor, und zwar einerlei, ob sich die jeweiligen Schulen der Genetik, der Systemtheorie oder der Sozialpsychologie verpflichtet fühlen. Fraglos ist bei allen vorausgesetzt, dass es um Defekte, Defizite oder Devianz geht, um Probleme also, die therapeutische Interventionen ebenso erfordern wie legitimieren. Untersucht wird dementsprechend so gut wie alles: Gene, Synapsen und Blutwerte, Beziehungsmuster, Sozialisationsstrukturen und Sexualverhalten.
Wie will da heute jemand von Unglück sprechen? Von einem Scheitern an zu hohen oder zu zarten Vorstellungen vom Leben? Von Tragik gar, vor der man sich nur in scheuem Respekt verneigen könne?
All dies scheint endgültig als Romantizismus abgetan, war es aber wohl schon zu Walsers Lebzeiten. Im Prosastück “Germer“ aus dem Jahr 1908 beschreibt er den ‘Fall’ eines Bankangestellten, genauer: einer “defekten Maschine“ (3, 117), wie es in ebenso sarkastischer wie gezielter Anverwandlung des funktionalistischen ]argons heisst. Germer ist den Anforderungen eines “schwierigen Wechselportefeuillepostens” (3, 115) nicht gewachsen, “beherrscht seine Empfindungen nicht” (3, 116) und wird von den Kollegen zum allgemeinen Gaudium schikaniert. Je mehr ihn all dies aufreibt, je unverhältnismässiger seine Reaktionen werden, desto sachlicher mahnt ihn Chef Hasler an die Effizienzgebote des ]obs: “Sie müssen exakter arbeiten”, lauten seine Ermahnungen, die keinerlei persönliche Rücksichten gelten lassen (3, 119). Eben diese unerbittliche ‘Objektivität’ (die nichts anderes ist als eine kaltschnäuzige Verleugnung der Situation) macht das Unglück Germers erst vollends komplett. Aus der beschriebenen Konstellation liesse sich fast eine Theorie der Unentrinnbarkeit ableiten, doch Walser widersteht dieser Versuchung und fragt nur knapp: “Wer kann einer Seele sagen, woran sie erkrankt”, um dann mit wegwerfender Geste fortzufahren: “Überlassen wir die zeitgemässe Beantwortung dieser Frage den Herren der Wissenschaft. Die haben’s Patent drauf.” (3,120) Man wird wohl kaum von interpretativem Mutwillen sprechen, wenn man nach diesem Satz der Ansicht ist, Walser habe den Herren der psychiatrischen Wissenschaft wohl alles mögliche zugetraut, nur keine Einsicht in die Katastrophen und Rätsel der menschlichen Seele.
Eine solch fundamentale Kritik könnte wohlfeil klingen, stünden nicht tiefste eigene Erfahrungen hinter ihr. Da war zunächst Walsers Mutter, eine Frau die in ihrer Jugend die Erniedrigungen der Armut bis zur Neige zu kosten hatte, die sich als Magd einer reich verheirateten Schwester verdingen musste, ehe sie ihrerseits einen besser situierten Mann kennenlernte und heiratete, eine Frau, die ihren Gatten zur Eröffnung eines Haushaltswarengeschäft bewegte, die mit ihrer Energie und Zähigkeit das Geschäft auf eine allseits geachtete Höhe führte, daneben die immer zahlreicher werdende Kinderschar erzog, und sich trotz andauernder strapaziöser Doppelbelastung im Alltag eine tiefe Sehnsucht nach dem Künstlerischen und Schönen bewahrte – bis sie schliesslich seelisch zerbrach, als die angesehene Stellung der Familie in einer Wirtschaftskrise zunichte wurde und gleichzeitig die Schwindsucht das Leben ihres erstgeborenen Sohnes auslöschte. Alles schien auf einmal vergebens: all die Mühen des Aufstiegs, alle Versuche, den Niedergang aufzuhalten – und alle opferbereite Selbstüberwindung, das Zusammenleben mit einem Mann zu ertragen, dessen robuste Körperlichkeit und einfache Selbstgenügsamkeit ihr je länger je mehr widerstrebt zu haben scheinen. Das Unglück war da wahrhaft mit Händen zu greifen, und doch sprach man von einer Gemütskrankheit’, die Walsers Mutter schliesslich ‘befiel’. Alles andere aber hätte wohl als Schande gegolten oder Fragen der ‘Schuld” aufgeworfen, die man lieber vermied.
Und dann war da jener bereits erwähnte Bruder Ernst, dessen Geschichte in “Geschwister Tanner” erzählt wird: Schon als Kind hat er die Eltern durch seine Intelligenz und Grazie bezaubert; nichts schien für ihn eine Mühe zu bedeuten – seine fliegende Auffassungsgabe begriff alles im Nu, musikalische Intuition war ihm ebenso eigen wie körperliche Gewandtheit und Kraft. Überall schien er zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen, so dass die verzweifelte Mutter ihn offenbar abgöttisch liebte. Den beiden jüngeren Brüdern lehrte er “auf gemeinsamen Spaziergängen Schönes und Hohes zu empfinden”. “Aus seinen Augen”, so die Worte von Simon Tanner, “tranken wir das Feuer der Begeisterung für die Kunst.” (9, 239)
Wenig später aber werden die bewundernden Jüngeren Zeugen eines langsamen, qualvollen Scheiterns. Die dürftigen materiellen Bedingungen der Familie lassen eine Ausbildung seiner künstlerischen Talente nicht zu; stattdessen muss der Bruder sich als Hauslehrer verdingen. Zu hochgespannt ist jedoch sein Temperament, um sich in irgendeine Form von Alltag zu fügen. Regelmässige Arbeit, haushälterischer Umgang mit Geld, die Pflege eines kleidsamen Äusseren – all dies scheint zu medioker für seine kühne genialische Art. Niederlagen und Auflehnung beginnen sich zunächst ganz langsam und unmerklich, dann immer unausweichlicher zu einer unseligen Spirale zu verketten. “Kann es nicht”, fragt Simon Tanner, “in einem Stäubchen der Seele liegen? So und immer so: und deshalb so? Schauen Sie bitte, was ich jetzt für eine Art von Handbewegung mache: So, so! Darin liegt es. Der Mensch fühlt so, und dann handelt er so, und alsdann stösst er an mancherlei Mauern und Unebenheiten so an.” (9,238) Unaufhaltsam wächst die Diskrepanz zwischen Fühlen und Welt. Jeder Widerstand alltäglicher Gegebenheiten bedeutet eine neue Demütigung und Erniedrigung; alles wird der verletzten Seele zu einer Frage der Selbstachtung – und genau dies erscheint der Umwelt je länger, desto bizarrer und unangemessener. Irritation und lauerndes Misstrauen greifen um sich. In scheinbar immer unmotivierteren und schwerer durchschaubaren Formen versucht der Betroffene seine Kränkung und seinen Stolz zu demonstrieren – bis schliesslich der gemeinsame Horizont des Verstehens verlassen scheint.
Walser kennt sie genau: jene Fatalität des Missverstehens, des alles verschlingenden Gefühls, nur noch Unrecht zu erleiden, jene Spirale der Irritation, Ausgrenzung und Selbstisolation, an deren Ende ein angeblich nicht mehr nachvollziehbares Anderssein, die ‘Verrücktheit’ steht. Auch im Prosastück “Germer” findet sich eine genaue Beschreibung dieses Prozesses, wobei nicht verschwiegen bleibt, dass, wer “gesund, rotwangig und robust ist, […] etwas zum Spielen, Unterhalten und Peinigen haben” muss (3,116). Der ‘Gesundheit’ von Germers Kollegen eignet eine unverhohlen sadistische Komponente; instinktiv wittern sie in Germer das waidwunde, in die Enge getriebene Tier, das man quälen und zur lustvollen Bestätigung eigener Macht umherjagen kann. “Inwieweit die freche Ungerechtigkeit guter Dinge zu sein vermag, obwohl sie früher vielleicht einmal Furcht vor sich hatte, stellt sie eine Potenz dar und ist gesund”, schreibt Walser noch in einem späten ‘Mikrogramm’-Text (AdB 4,212).
Walser lässt hier keinen Zweifel daran, dass die ‘Gesunden’ den Andersartigen nicht zuletzt deswegen ausstossen (und gegebenenfalls quälen), um einer Furcht vor der Ungewissheit in sich selbst zu begegnen. Offenbar sind sie keineswegs so selbstverständlich gesund und vernünftig, wie es den Anschein macht, sondern spüren sehr wohl die Gefahr, die ihnen durch Irrationalität, Fremdheit und Aggression von aussen wie innen droht. Je mehr dies jedoch geleugnet wird, desto gewaltsamer fällt die Scheidung zwischen ‘gesund’ und ‘krank’ sowohl in der Ideologie wie in der Praxis aus. Germer erweist sich dabei als ein verhältnismässig leichter Gegner – er ist schwach und liegt schon sichtbar mit sich selbst im Hader. Mit ihm haben seine Kollegen ein ebenso leichtes wie unterhaltsames Spiel. Ernst Walser dagegen war von anderem Kaliber; sein Benehmen war schroff und kühn, unberechenbar und anmassend. Bei der Armee steckte man ihn in Arrest – er brach aus. Man schnappte ihn und steckte ihn ins Irrenhaus – wieder brach er aus und wieder schnappte man ihn. Mit aller Krafte scheint er sich aufgelehnt zu haben – bis er schliesslich völlig zerbrach. Die letzte Sorge, die er hatte, war, dass man seine beiden Bände Nietzsche nicht verkaufe.
Man darf annehmen, dass Walser eine gewisse Parallele zwischen Nietzsche und seinem Bruder sah, ja vielleicht sogar ersteren zu gewissen Teilen für das Schicksal des letzteren verantwortlich machte. Die Katastrophe um Ernst Walser vollzog sich 1898, d.h. in jenem Jahr, da Walser seine ersten Gedichte veröffentlichte. Vielleicht ist diese Koinzidenz kein Zufall. Noch wenige Monate zuvor hatte er seine Verse mit kühnem Schwung und heisser Unmittelbarkeit aufs Papier geworfen, ganz wie es wohl der Mentalität seines Bruders entsprach. Plötzlich aber begegnete alles Hochtönende und -fliegende in ihm einer Skepsis, ja einer unverkennbaren Scheu. Mit einmal geht Walser lieber “beiseit” und weicht allem Pathos und glühenden Ringen mit Bedacht aus. Es scheint, dass ihm das Scheitern seines Bruders zu einer tiefen Erfahrung wurde: “Das Unglück bildet”, lässt er Simon Tanner sagen, “im ersten Augenblick verstehen wir das Unglück nie, deshalb hassen wir es im Moment seines Kommens.” (9, 240) Simon dagegen hat verstanden; das Schicksal seines Bruders wurde ihm zu einer unmissverständlichen Lektion, das Leben besser auf andere Weise zu nehmen. “Das Unglück ist gut”, kann er füglich sagen, “denn es enthält auch das Glück, sein Gegenteil. Es erscheint mit beiderlei Waffen bewaffnet. Es hat eine zornige und vernichtende, aber auch eine sanfte und liebliche Stimme. Es weckt neues Leben, wenn es altes erschlagen hat, das ihm nicht gefallen hat.” (9, 24I) Am tragischen Schicksal seines Bruders war offenbar nichts zu ändern; um so mehr liegt Simon daran, darin eine Würde und Bedeutung zu erkennen und es nicht als pathologisch zu denunzieren.
Gleiches gilt im übrigen auch für seine Haltung dem geistigen Ziehvater seines Bruders gegenüber: Friedrich Nietzsche. Walser kommt zwar erst in den 20er Jahren explizit (und dann eher kritisch) auf ihn zu sprechen, doch verraten seine früheren Texte, dass er manches von ihm gelesen und sich zu eigen gemacht hat. Schon Simon Tanners uneingeschränkte Affirmation des Unglücks entspricht ganz dem Bejahungs-Pathos von Nietzsches Philosophie. Vollends deutlich wird dessen Einfluss im programmatischen Essay „Über den Charakter des Künstlers“ aus dem Jahre 1910/11. „Immer dicht vor dem Sturze” sieht Walser den Künstler; “dass er nie zur Sicherung oder Versicherung seiner selbst gelangt, scheint sein Los. […] Verloren in den Abgründen der Mutlosigkeit, gewinnt er oft das Beste: sich selbst.” (15, 63 ff.) Das Beharren darauf, ein absoluter Selbsterzieher zu sein, ist Zarathustra-Erbteil, wenn dies auch, wie gesagt, nur in verhaltener Stimmlage vorgetragen wird. “Da er das Edle und Schöne nur im Ganzen erblickt”, heisst es weiter, “so lebt er auch gleich in das Ganze hinein.” (15,65) Dies stellt ihn notwendigerweise ausserhalb von Konvention und moralischer Eindeutigkeit, denn das Wahre lebt ‘jenseits von Gut und Böse’: “So wandelt er unter seinen Mitbürgern bald als Frivoler, bald als Brummbär, bald als moralisches Ungeheuer, und es ist doch immer nur die Sitte und Art, die er selber entdeckt hat, der er gehorchen muss.” (15, 65) Die Gefährdungen, die mit einer solchen Vorurteilslosigkeit verbunden sind, betrachtet er als Indiz für die Wahrhaftigkeit seiner Bemühungen. Dass seine Gedanken ihm fortwährend “die gesunden Sinne zu verrücken drohen”, ist das Natürlichste schlechthin.
“Es könnte selbst zur Grundbestimmung des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntnis zugrunde ginge”, liest sich diese Überzeugung bei Nietzsche (II, 602). Man braucht nur Walsers ebenfalls um 1910/11 entstandenes Prosastück “Grün“ (I) zu lesen, um eine Ahnung davon zu gewinnen, wie schon die blosse Vertiefung in diese Farbe an den Wahnsinn streifen kann – und zwar nicht, weil der Beobachtende und Sinnende wahnsinnig wäre, sondern weil dies im Unbegreiflichen der sinnlichen Natur selbst begründet liegt. Walser beharrt in diesen und anderen Texten darauf, dass die Welt als das genommen, was sie ist: in ihrer Schönheit und Schrecklichkeit, im prekären Bedrohtsein allen Lebens und im Überirdischen allen Lachens darüber, in ihrer Abgründigkeit und tiefen tragenden Dünung – dass die Welt genau besehen, über den menschlichen Verstand geht und etwas zutiefst Sinnverwirrendes hat, wenn man sich ihr schutzlos öffnet. Und es ist kein Zufall, dass es die Porträts von Kleist und Hölderlin sind, in denen Walser diese gefahrvolle Dimension der Wirklichkeit mit grösstmöglicher Intensität vorführt. An ihnen wird deutlich, dass für einen tief empfindenden Menschen das Zuhausesein in der Welt alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, im Gegenteil: Wahrhaftig besehen eignet der Welt und dem Leben etwas immerwährend Unheimliches und Unauslotbares: unsicher ist alles, die physischen Bedingungen des Körperlichen ebenso wie die Wechselfälle der persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen. Das bisschen Vertrauen ins eigene Geschick und die nächste Umwelt beruht mithin eher auf einer Verdrängungsleistung denn auf Hellsichtigkeit, und dennoch ist dieses Vertrauen fast unabdingbar. Es sich immer wieder erwerben zu können, ist nur zu kleineren Teilen persönliches Verdienst – zu grösseren aber Glück. Wem es nicht blüht, trägt in sich jenes schattenhafte Gespenst, die uns als Allegorie der Depression und Glucksverlassenheit in Walsers „Spaziergang“ begegnet: der Riese Tomzack. “Ah, ich wusste wer er war”, sagt der Spaziergänger, Walsers Alter ego.”Für ihn gab es keine Ruhe. (…) Gänzlich ohne Glück, ohne Liebe, ohne Vaterland und Menschenfreude lebte er. Irgendwelchen Anteil nahm er nicht, dafür nahm auch an ihm und seinem Treiben niemand Anteil. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben schien zu gering, zu eng für ihn zu sein. Für ihn existierte keinerlei Bedeutung; doch bedeutete wieder er selbst für niemand irgend etwas. Aus seinen Augen brach ein Glanz von Unterwelten – und Überwelten-Gram hervor, und ein unbeschreiblicher Schmerz sprach aus jeder seiner müden, schlaffen Bewegungen.” (7, 104)
Dem Spaziergänger gelingt es jedoch, dem Riesen aus dem Weg zu gehen, wobei er ihn immerhin als “Freund” grüsst und ihm alles Gute wünscht. Nicht zufällig fällt in diesem Moment auch das Wort vom “bedauernswürdigen Übermenschen” (7, L04), als sei Walser hier der Schatten des kranken Nietzsche und seines Bruders Ernst begegnet, der kurz vor der Niederschrift des Textes in der Waldau gestorben war. Der Spaziergänger gewinnt indes bald wieder die offene, helle Strasse und tritt wenig später in einen Tannenwald hinein, wo ihn “ein unnennbares Weltempfinden und ein damit verbundenes, gewaltsam aus der Seele hervorbrechendes Dankbarkeitsgefühl” (7, 105) erfüllt – dafür, dass er die Schönheit der Welt empfinden kann und nicht jenem Schatten verfallen ist.
Immer wieder “Unentweihtheiten” (19, 29) zu entdecken und an sich selbst zu gesunden, ist denn auch der tiefste Kern des Walser’schen Schreibens. “Ich bin der Riese, der mich erträgt”, heisst es später lapidar (18, 113). Und in der Tat gewinnt Walser aus den “Abgründen der Mutlosigkeit” immer wieder neu sich selbst: “Erlösungen sind uns ja immer so herrlich nah”, wird im “Räuber”-Roman einmal beiläufig bemerkt (L2, 93). “Und wenn ihm jemand sagt, dass er total nervös sei”, lautet das Fazit des Prosastücks, das jenes als ‘gemütskrank’ zu verstehende Wort zum Thema macht, “so muss er durchaus nicht davon überzeugt sein.” (16, 354)
Es ist vielmehr eine “krankhafte Gesundheitslustigkeit”, von der Walser – sich selbst als Glossisten glossierend – spricht, wobei er sofort das “rollende Lachen” (19, 287) erwähnt, das in ihm unbesiegbar scheint. Dem widerspricht im übrigen keineswegs, dass er als Prosastücklifabrikant von sich sagt: “Ich habe Quellen des beständigen Krieges in mir, ich führe in einem fort Krieg” – denn eben dies ist auch das Movens dafür, dass der Satz mit den Worten zu Ende gehen kann: “. .. und schliesse wieder mit mir Frieden und bin so unausgesetzt in angenehmster Anspannung.” (AdB 1,72) So weiss er selbst irritierendste Erfahrungen aufzunehmen und einzuordnen: Wenn beispielsweise der “Räuber” davon berichtet, dass er sich einstmals “verfolgt” und durch “gewisse innere Stimmen” geplagt gefühlt habe, so lernte er doch auch bald “wieder lachen” . (12, 61) Im übrigen findet sich andernorts die Einsicht, dass er nur sein “Verfolger und Verdächtiger selber” (17, 248) war, und was die ‘Stimmen’ betraf, so wird zu bedenken gegeben, dass bereits “im alten Rom, im klassischen Griechenland […] Menschen vorkamen, die sich dem Glauben hingaben, innere Stimmen seien anhörenswerter als äussere.” (AdB V, 27) “Mit gewaltiger innerer Stimmbefähigung” (17, 430) begabt zu sein, war zuletzt doch nichts geringeres als eine unabdingbare Voraussetzung und Quelle des Schreibens. Mit sich selbst bloss identisch zu sein – wie langweilig und steril wäre dies wohl gewesen. Statt dessen durfte er sich mit einem Anflug von ironischem Stolz sagen: “Was für ein vieltöniger Mensch ich bin, ein wahres Orchester.” (AdB 1, 243)
Ohne Wirrnisse konnte es dabei natürlich nicht abgehen – dies gehörte sozusagen zum Berufsrisiko. Schliesslich galt für Walser der Satz: “Der Dichter ist einer, der etwas riskiert:’ (19, 362) Es war in diesem Zusammenhang durchaus verständlich, wenn er in seiner Umwelt Irritationen hervorrief: “Spiessbürger fürchten wegen Dichtern usw. immer, sie könnten ein bisschen spinnen” (19, 30), war sich Walser bewusst. Dergleichen Eindrücke liessen sich nach Lage der Dinge nun mal nicht zu vermeiden. Wie sollte ein Aussenstehender auch verstehen, dass der Dichter schwere Gedanken dadurch verwand, dass er beispielsweise “backfischelte” und damit sich selbst gegenüber “ein wenig den Arzt spielte” (19, 223)? Mochte dies auf andere wirken, wie es wollte – für den “Einsamen” galt: “Sittliche Grenzen zieht er selbst:” (8, 101) In jedem Fall aber glaubte sich Walser auf sein “Gleichgewichtstalent” verlassen zu können, ja er behauptete davon sogar, es grenze seit der Zeit “ans Fabelhafte”, da er sich als einen “geschmeidig Unbeugsamen” zu begreifen gelernt habe (19, 36).
Und mitunter schien es Walser gar, sein Leben sei fast zu profan, zu wenig exzentrisch, zu wenig künstlerhaft. Weder war seine Existenz irgendwie interessant oder sein Name berühmt, noch umgab ihn der Nimbus tragischen Duldertums. Für manche mochte es allenfalls suspekt sein, dass er als Junggeselle lebte; sonst aber war er nichts als ein bescheidener möblierter Zimmerherr – unauffällig zumeist und soweit ganz umgänglich. “Du hättest eine wahre Entschwundenheit werden können”, hielt sich Walser denn auch vor, “du hast versäumt eine Fabel aus dir zu machen.” (AdB 1, 77) Offenbar spielte er mit dem Gedanken, ihm fehle womöglich nur ein ‘Schicksal’, damit sein Werk in den Augen der Gebildeten endlich interessant würde. “Soll ich glauben, ich sehnte mich danach, ganz, ganz arm zu sein, um alles, alles zu kommen?” fragt er sich an anderer Stelle (AdB V, 160) “Oh, wenn doch auch ich verlorengehen und nach so und so viel Zeit wieder zum Vorschein kommen könnte”, lautet eine weitere dieser Phantasien (AdB l, 273).
Dass sie schliesslich realiter eintrat, hat Walser wohl selbst nicht im Ernst erwartet. Schon gar nicht dadurch, dass man ausgerechnet ihm eine ‘Kopfkrankheit’ zuschrieb, der soeben noch notiert hatte: “Ich bin der Inhaber eines wundervoll reichen Innenlebens, […] mit Hülfe dessen ich mich, ich möchte glauben, jeden Augenblick in die beste Laune zu versetzen imstand bin.” (AdB IV, 58) Natürlich war dies nur eine Seite – “halb irrsinnig” (11, 17) kannte er sich auch – oh ja, durchaus. Aus eben dieser doppelten Erfahrung aber sah er sich selbst “mit einer Entschiedenheit jenseits von Lachen und Weinen, von Lustigkeit und Trübseligkeit, von Genuss und Entbehrung dass die, die ihn heben möchten, an ihm verzweifeln.” (AdB 1, 134)
Nun, Psychiater verzweifeln gewöhnlich nicht; die Gesellschaft verlangt anderes von ihnen. Die Psychiatrie soll vielmehr Klarheit schaffen, wenn jemand auf seine Umwelt beunruhigend, irritierend und unberechenbar wirkt. Dann scheint eine Instanz vonnöten, die die Sache auf einer anderen, unverfänglicheren Ebene behandelt und eindeutige Antworten gibt. Zu sagen, dass ein problematischer Mensch krank sei, wirkt da natürlich ungeheuer entlastend – manchmal sogar für diesen selbst. Nicht weniger praktisch ist es, wenn die betreffende Institution gleich noch die ganze Verantwortung für die weiteren Schritte und ‘Notwendigkeiten’ übernimmt. Wie könnten die anderen sonst auch wieder an ihre ruhige oder unruhige tägliche Arbeit gehen. Solches ist schliesslich wichtiger, als zu wissen, was in jenem Menschen wohl vorgegangen ist und weiter vorgeht.
Bei Walser lesen sich dergleichen unentdeckt gebliebene Gedanken beispielsweise so: “Wesentlich ist, dass uns alles, was uns einfällt, belebt. Ein pompös-unwirscher und verantwortungsbeladener Mensch und Mitbürger zu werden, dazu ist es für mich zu spät. Ich bin von jeher sehr unglücklich und deshalb immer ein sehr glücklicher Mensch gewesen und werde es bleiben. Aus diesem Grund nun ist es ganz unmöglich, dass mich Menschen, die mir nicht freundlich gesinnt sind, zu schädigen vermöchten. Ich kam sehr krank zur Welt, was den Vorteil hat, dass man mich nicht kränken, nicht krank zu machen vermag. An jederlei Schaden bin ich seit langem gewöhnt.” (AdB IV, 57 f.)

Anmerkungen:
Zitiert wird aus folgenden Ausgaben:
Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven, 20 Bde., Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1985-86
Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang, 6 Bde., Frankfurt/Main 1995-2001 (AdB)
Friedrich Nietzsche: Werke. Hg. V. Karl Schlechta, 3 Bde., München: Hanser Verlag 1966

terug naar pagina “reacties na zijn dood”