«Walsers bizarre Gedankengänge und seine Grilligkeit»

Wir möchten Ihnen ein Gespräch mit der niederländischen Übersetzerin Machteld Bokhove vorstellen, das Kerstin Gräfin von Schwerin im November 2018 geführt hat.
Machteld Bokhove (Jg. 1949) ist aufgewachsen in Utrecht und Eindhoven. Sie studierte von 1967 bis 1974 Architektur an der Technischen Hochschule (seit 1986: Technische Universität) in Delft. Sie lebt seit 1976 in Amsterdam, arbeitete lange Zeit in einem Architektenbüro, spezialisiert im Sozial-Wohnungsbau, und wurde erst viel später Übersetzerin von Walsers Werken.

Wie sind Sie dazu gekommen, Texte Robert Walsers zu übersetzen?

Erst mit neunundzwanzig Jahren entdeckte ich, dass ich den Wunsch hatte, Übersetzerin zu werden. Da man in den Niederlanden als Übersetzerin kaum leben kann, habe ich zunächst in einem Architektenbüro gearbeitet und in meiner Freizeit mit Übersetzungsarbeiten begonnen. Meine finanzielle Unabhängigkeit seit 2006, dank einer unerwarteten Erbschaft, erlaubte mir endlich, meinen Architektenberuf aufzugeben und mich ganz dem Übersetzen zu widmen. Als ich eines Tages im Sommer 2007 eine Rezension über die Bücher «Eine literarische Biographie in Texten und Bildern» von Jürg Amann, den «Räuber»-Roman und «Liefdesverhalen» (Liebesgeschichten) las, erinnerte ich mich sogleich an Walsers Roman «Der Gehülfe», den ich in den 1980er Jahren mit großer Begeisterung gelesen hatte. In meinem Bücherschrank befand sich zu diesem Zeitpunkt ein kleines gelbes Reclam-Büchlein «Kleine Wanderung» mit kurzen Prosastücken. Ich habe sofort am nächsten Tag angefangen, Walser-Texte zu übersetzen, und seitdem nie wieder damit aufgehört. Über Jahre hinweg habe ich täglich versucht, mich mit der Sprache Walsers vertraut zu machen. Ich hatte nur in meiner Jugend in der Schule die deutsche Sprache gelernt und wollte keine weitere Sprache mehr studieren, auch keine Übersetzungswissenschaft. Ich glaube, dass das Übersetzen auch überhaupt keine Wissenschaft ist. Alles wollte ich selbst herausfinden. Die Gefahr ist, Walsers Sprache zu «glätten und plätten», wie es im «Brief eines Vaters an seinen Sohn» heisst, sonst würde die eigenartige Diktion Walsers verlorengehen.
Anfangs fühlte ich mich noch zu unsicher einen Verlag zu suchen. Ende 2008 habe ich begonnen eine Website aufzubauen, auf der ich meine Übersetzungen ins Niederländische den deutschen Texten Walsers gegenüber gestellt habe (mit Genehmigung des Suhrkamp-Verlags). Außerdem habe ich vieles über Walser mitgeteilt. Diese, inzwischen erweiterte, Website gibt es noch immer: www.robertwalser.nl.

Welche Texte Walsers lagen bereits in niederländischer Übersetzung vor?

Das waren die Romane «De bediende» (Der Gehülfe) und «Jakob von Gunten. Een dagboek» sowie die Prosastücke «Fritz Kocher z’n opstellen» (Fritz Kochers Aufsätze) und «De kuise nacht en andere liefdesverhalen» (Liebesgeschichten). Diese Werke wurden von dem bekannten niederländischen Schriftsteller Jeroen Brouwers übersetzt und erschienen in den Jahren 1979 bis 1987 im Verlag De Arbeiderspers Amsterdam. Die Übersetzungen fand ich aber nicht zufriedenstellend. Brouwers mochte Walsers Stil nicht sonderlich, die Übersetzungsarbeit diente ihm vor allem zum Broterwerb. Seine Übersetzungen weissen störende Fehler auf, wie auch einige Kritiker feststellten. Das hat mich veranlasst, Walsers Romane «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten» aufs Neue zu übersetzen.
Daneben wurden ab und zu kurze Prosastücke von Walser – übersetzt von Jacq F. Vogelaar, Thomas Graftdijk oder Hans Bakx – in der international orientierten literarische Zeitschrift «Raster» (1967–2008) publiziert, in der auf ungewöhnliche und experimentelle Texte aufmerksam gemacht wurde.

Was hat Sie an Walsers Sprache fasziniert?

Das Wichtigste für mich hat vielleicht Max Brod am besten gesagt: Brod spricht über den sogenannten ‹Drei-Schichten-Dichter›, über Walsers Ironie, die vielleicht gar keine Ironie im herkömmlichen Sinne ist. Man liest, was da geschrieben steht, doch bald meint man zu glauben, das sei Ironie. Und dann fragt man sich: Ist das wirklich Ironie? Walser ist zugleich naiv und raffiniert, diese Ungreifbarkeit fasziniert mich. Ich liebe seine bizarren Gedanken-gänge und seine Grilligkeit. Walser kann so ungemein herausfordernd sein und schriftstellert zugleich oft so zart wie ein kleines Kind.

Welche Schwierigkeiten traten beim Übersetzen von Walsers Texten in die niederländische Sprache auf?

Die deutsche Sprache ist der niederländischen recht nahe, näher als z.B. der französischen oder englischen. Aber das ist gerade das Gefährliche, weil unsere Sprache doch oft eine ganz andere Syntax hat.
Ich liebe den Rhythmus und die Musik von Walsers Sätzen und das Fremde, Eigenartige an Walsers Stil. Das versuche ich beim Übersetzen beizubehalten. Für mich bedeutet Übersetzen nicht nur auf Inhalt, sondern auch auf Form zu achten. Ich fühle mich eigentlich als ‹Entwerfer›, für mich ist Übersetzen eine Art von ‹Entwerfen-in-Sprache›, der Originaltext ist der Auftrag. Walser spielt mit der Sprache. Die Spielerei ist für mich ebenso wichtig wie der Inhalt, manchmal sogar wichtiger. Man muss oft lange nachdenken, bis man eine passende Formulierung findet.
Vor allem der «Räuber»-Roman und einige Mikrogrammtexte bereiten Schwierigkeiten, weil Walser hier öfters vom Hölzchen aufs Stöckchen oder vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Der Kontext geht immer wieder verloren, was das Übersetzen erschwert.

Erinnern Sie sich an einen Satz, der Ihnen beim Übersetzen besonders Schwierigkeiten gemacht hat?

Es gab zwar keinen speziellen Satz, aber so viele Sätze im «Spaziergang», die waren so lang und kompliziert. Ich wollte die Reihenfolge der Satzteile so gut wie möglich beibehalten und habe da endlose Kapriolen machen müssen.

Hat sich Ihre Sicht auf Walsers Texte während der Übersetzungsarbeit verändert?

Nein, nur vertieft und bereichert, aber Walser wird mir immer ein Rätsel bleiben. Ich möchte Walser solange übersetzen, wie es mir meine Gesundheit erlaubt.

Welche Resonanz haben Ihre Übersetzungen?

Am Anfang war es sehr schwierig. Seit 2011 fühlte ich mich sicher genug, dass ich mich mit meinen Übersetzungen an Verlage wenden konnte. Ich fragte bei etwa zehn Verlagen an, aber keiner war interessiert an Walser. Schliesslich fand ich den kleinen Amsterdamer Verlag Parrèsia, der eine Sammlung mit kurzen Prosastücken von Walser herausbringen wollte. Im Oktober 2013 erschien «De vrouw op het balkon en andere prozastukjes» (Die Frau auf dem Balkon und andere Prosastücke), eine chronologische Auswahl von etwa 45 Prosastücken aus meiner Website. Sie reicht von «Der Greifensee» (1899) aus den frühen Jahren bis zu hin zu «Er und Sie» (1933) aus den späten Jahren. Das Buch «De vrouw op het balkon en andere prozastukjes» wurde von der Literaturkritik recht positiv aufgenommen, bis jetzt wurden etwa 1.200 Exemplaren verkauft. 2014 kam der grosse Amsterdamer Verlag Lebowski hinzu, der vom Suhrkamp Verlag die Übersetzungsrechte für alle Walser-Werke erhielt. Im Januar 2015 erschien «De wandeling» (Der Spaziergang), der sehr gut aufgenommen wurde. Es gab ganz viele begeisterte Rezensionen. Fast 5.000 Bücher sind verkauft worden. Ein Jahr später, im Februar 2016, folgte der Roman «Jakob von Gunten», der jedoch merkwürdigerweise kein grosser Erfolg wurde. Der Verlag Lebowski wollte danach nichts mehr von Walser herausgeben, also waren die Rechte wieder frei. Ich war darüber erleichtert und nicht mehr an den Verlag gebunden. Doch hatte ich noch viele Übersetzungen fertig liegen: «Der Gehülfe», «Der Räuber», «Geschwister Tanner», viele kurze Prosastücke und auch Mikrogramme. Inzwischen war ich gut befreundet mit dem Herausgeber des Verlages Koppernik Amsterdam, der seit langem schon «De rover» (Der Räuber) herausgeben wollte. Das Buch erschien im September 2018, es folgte eine zweite Auflage, wieder mit 1.000 Exemplaren. 2019 soll der Roman «De Tanners» (Geschwister Tanner) folgen, dann wartet noch der Roman «De assistent» (Der Gehülfe) auf sein Erscheinen.
Daneben wurden im Verlauf der Zeit weitere meiner Übersetzungen von Walsers kurzen Prosastücken wie «Kleine Wanderung», «Wanderung», «Rede an einen Knöpf», «Das Pferd und die Frau» und «Die Millionärin» in verschiedenen literarischen Zeitschriften in den Niederlanden publiziert.
Wie mir meine ehemalige Verlegerin sagte, ist Walser in den Niederlanden etwas für «Feinschmecker», «eine Nische». Ein anderer Verleger meinte, dass viele Literaturliebhaber, die in den letzten Jahren die Bekanntschaft mit Walser gemacht hätten, neugierig geworden seien und dass für manche Leute der «Räuber»-Roman sogar eine Art Kult-Buch sei. Ein Philosophieprofessor, der viele junge Leute, hauptsächlich junge Studenten, kennt, behauptet jedoch, dass Walser noch immer eine Randfigur sei.
Ich glaube, Walser ist vor allem ein Autor für Autoren, Dichter und Künstler. Ich weiss, dass es in den Niederlanden einige, allerdings nicht mehr ganz junge Autoren gibt, wie z.B. Arnon Grunberg, P.F. Thomése, Nicolaas Matsier und Lucas Hüsgen, sowie die Kritiker Arjan Peters, Wil Rouleaux und Dirk Leyman, die grosse Walser-Liebhaber sind.

in: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft
Bern, april 2019